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Theo Geißler. Foto: Charlotte Oswald
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Theos Kurz-Schluss – Wie ich einmal trotz meines fortgeschrittenen Alters über den Umweg der Toleranz zu aufschlussreichen Einsichten kam

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Daran kann ich mich noch ganz gut erinnern: Wenn ich, oft „Lausbub“ genannt, in Nachbars Garten die – im Vergleich zu den unseren – wesentlich süßeren Erdbeeren klaute und erwischt wurde, drohte mir der wachsame Nachbars-Opa – ich war schon auf der Flucht: „Das nächste Mal holt dich der schwarze Mann, und dann gibt’s ordentlich Watschen“. Diese Drohung schien seinerzeit sehr in Mode gewesen zu sein – sie wurde mir bei ungefähr jedem zweiten meiner Vergehen von unterschiedlichsten Autoritäten meist nachgeschrien. Damals war ich noch recht flink. Das führte bei mir zu einer seelischen Störung.

Jedes Mal, wenn der Kaminkehrer kam, also bei uns monatlich, verkroch ich mich unter der Küchenbank. Ähnliches geschah gottlob nur einmal jährlich, wenn der Nikolaus mit dem – wie man heute sagen würde, blackgefaceten Krampus kam – um mir die lange Liste meiner Sünden vorzutragen, samt finaler Vergebung und Marzipankugeln. Erst nach der Kindergartenzeit erlöste mich das Spiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann …“ von den Panikattacken und ich erfuhr, dass es sogar Glück bringe, einen Kaminkehrer zu treffen.

Weiter Sprung in die digitale Welt: Seinerzeit, also kürzlich, stöberte ich noch durch Facebook, immerfort zu Scherzen aufgelegt. So las ich einst bei einem mir namentlich bekannten Musikstudenten eine aufgrund zahlreicher anglo-technizistischer Fachvokabeln für mich nicht ganz leicht verständliche Abhandlung, dass das Ende des konventionellen musikalischen Ins­trumentariums nah sei, da mittlerweile alle weltweit und demnächst weltraumweit vorhandenen Klangmöglichkeiten gesampelt und gespeichert vorlägen und auf Tastendruck abrufbar seien. Das ergäbe unendliche kompositorische Möglichkeiten und man könne beispielsweise das bekannt zwanghafte Bach-Geklimper und -Getröte endlich vergessen. Natürlich unter Klarnamen schrieb ich als Kommentar – vielleicht noch restdeformiert durch meine kindlichen Angsterfahrungen: „Lieber Xy,“ (kein kambodschanischer Klarname, sondern ein Meme, ich bin ja kein Denunziant) „zur Nervenklinik in zweihundert Metern rechts abbiegen – und die Zahnbürste nicht vergessen …“.

Oh ach und weh – das löste einen unerwartet saftigen Shitstorm aus. Es folgt eine sehr kleine Zusammenfassung, ein Konzentrat der kritischen Repliken: Was ich Ignorant mir einbilde, das dumme Maul aufzureißen. Ob ich mich von meiner Lobotomie schon erholt hätte. Weshalb ich mich mit meinem Halbwissen aus der Mottenkiste der Reichsmusikkammer überhaupt ans Tageslicht traue. In Stockhausens Feuerofen möge ich verschmoren. Das alles konnte ich ja noch verstehen, aber folgender, in Abwandlungen mehrfach geäußerter Vorwurf irritierte mich: Als alter weißer Mann sei ich ein aus jeder Zeit gefallener Nix-mehr-Kapierer. Alte weiße Männer wie ich seien schuld am Artensterben, am Kapitalismus, an Kriegen aller Art, an der Klimakatas­trophe und überhaupt … Nun, eine derartige Vorwurfskanonade sollte ja einige Gründe haben. Dabei entsinne ich mich meiner mühsamen aber durchaus spannenden Altgriechisch-Lektüre, in der die Erfahrungen und der Rat „alter weis(s)er Männer“ überwiegend ehrend geschätzt wurde. Natürlich gab es im Lauf der Zeit nicht nur Dichter und Denker, sondern jede Menge machtgeile Vollidioten. Dass die Reihenfolge des „Dreiwortsatzes“ eine Rolle spielt, scheint klar: Es geht ja nicht um weiße männliche Alte oder alte männliche Weiße. An der Spitze das Geschlecht, gefolgt von der Rasse und dann dem Alter. Der bekannt mannstollen Neuen Zürcher Zeitung entnehme ich, dass ausgerechnet Ursula von der Leyen im Jahre 2012 die schwächelnde deutsche Wirtschaft als „old white man“ charakterisierte. Der Google Books Ngram Viewer ermöglicht es, die Häufigkeit der Nutzung von Begriffen in ca. acht Millionen Büchern zu ermitteln. Der Club der alten weißen Männer erreicht Spitzenwerte.

Und der NZZ entnehme ich ferner, dass zunächst die alten weißen Männer noch Adjektive wie langweilig, mürrisch, fett oder dreckig zur Charakterisierung umgehängt bekamen, heutzutage kann man auch die Anführungszeichen weglassen, weil die „Marke“ so bekannt ist wie Coca-Cola. In der mittlerweile reichlich zu findenden Literatur  – ich verschweige, welchen Geschlechtes die Autorinnen sind – steht als quasi lexikalische Definition des alten weißen Mannes: Er ist ein Typ Mensch, der seine privilegierte Situation verdrängt, den gesellschaftlichen Wandel belächelt und glaubt, sein überlegenes gesellschaftliches Standing aus eigener Kraft erreicht zu haben.

Da senkt sich mein Blutdruck auf deutlich spürbare 200. Ich muss mich nicht betroffen fühlen – oder nur ein ganz klein wenig. Jede Menge gesellschaftlichen Wandel halte ich nämlich für nötig: Die Rückstufung der FDP unter die Fünf-Prozent-Hürde beispielsweise: Ihr verantwortungsloser Umgang mit den Corona-Gesetzen, ihr aufgeblasenes Wirtschaftskompetenz-Gelaber schmerzt. Genau dieses Thema habe ich mir für meinen abendlichen Schafkopf-Stammtisch vorgenommen. Und morgen beim Senioren-Kegelabend werde ich dafür plädieren, dass künftig auch Damen mitspielen dürfen. Eigentlich sollte ich dankbar sein für all die aufrüttelnden Hinweise infolge meines Facebook-Kommentars. Für mich eine Wokeness. Ich melde mich jetzt erst mal bei Studi-VZ an. Und meinem Urenkel werde ich nicht mehr mit dem schwarzen Mann drohen, wenn er meine Windelhosen mit dem Filzstift gelb anmalt.

  • Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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