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Theo Geißler. Foto: Charlotte Oswald

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Theos Kurz-Schluss: Wie ich einmal wirklich nicht mehr wusste, ob in Wirklichkeit die Wirklichkeit wirklich ist

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Meine Krise ist hoffentlich nicht offensichtlich. Albträume tags und nachts. Hochrealistisch, wirr. Was ist echt, was Spinnerei? Gibt es mich wirklich oder bin ich doch nur ein billig programmiertes Sequenzlein aus Bits und Bytes in einer Matrix, vielleicht gar der jener gleichnamigen Filmtrilogie, die mich ähnlich wie in dem Hollywood-Schinken „Und täglich grüßt das Murmeltier“ überzeugend aufbereitet immer wieder abspielt? Mit einem Unterschied: Es gibt in meiner Kopie keine „Kollegin Rita“ – und somit kein Entkommen. Und meine Kräfte sind alles andere als übernatürlich. [Vorabdruck aus Politik & Kultur 2021/05]

Wie es bei alledem Ihnen geht, weiß ich leider noch nicht ganz so genau. „Noch“, weil mich demnächst sicher irgendeine digitale Innovation in die Lage versetzt, dank Googles oder Apples Distanz-Hirnstrom-Interpreters samt Hormonanalyse Ihre Gemütslage penibel zu erforschen. Soll ich mich darauf freuen – mir sicherheitshalber zum Selbstschutz ein Nudelsieb als Faradayschen Käfig über den Schädel stülpen?  Und mich bis dahin auf meine bekanntlich vorurteilsbehaftete Menschenkenntnis verlassen? Stil-, Geruchs- und Gesichtsinterpretation? Wobei Letztere aufgrund aktueller Austauschbarkeit völlig unzuverlässig geworden ist: Ausgerechnet ein finnisch-nordkoreanisches Team aus Psychologen, Tätowierern und Informatikern trainierte nämlich ein sogenanntes „Generative Adversarial Network“ (GAN) mit 100.000 Bildern von Prominenten (unter anderem Ulrich Tukur, Meret Becker, Jan Josef Liefers samt Gattin Anna Loos), um daraus neue Gesichter zu erzeugen. Bei einem GAN treten zwei neuronale Netze in einer Art Wettbewerb gegeneinander an: Das eine erzeugt virtuelle Bilder, das andere versucht zu erkennen, ob diese real oder gefälscht sind. So spornen sie sich gegenseitig zu immer realistischeren Fakes an. Hunderte auf diese Weise gefakte Promi-Porträts zeigten die Forscher Versuchspersonen, die digital gekoppelt waren und daraufhin gedrillt wurden, sich darauf zu konzentrieren, ob sie ein Gesicht besonders attraktiv fanden. War das der Fall, zeigte sich das fast sofort in den Gehirnwellen, die sich herzförmig krümmten.

Das Seltsame: Jeder Mensch springt im Wesentlichen immer wieder auf dieselben Reize an. Wohlgemerkt auch schon aufs Gesicht reduziert. Mit dieser Information wurde dann in einem mega-dimensionalen „Face-Space“ des neuronalen Netzes der Punkt trianguliert, der genau der höchsten Attraktivität bei jeglichem der menschlichen Versuchskaninchen entspricht. Auf diese Weise näherten sich die Bilder immer weiter dem an, was die Testpersonen bewusst oder unbewusst als Traummann beziehungsweise Traumfrau erkoren.

Der Versuch zeigt, dass die Nutzung von EEG-Reaktionen zur Kontrolle eines „Generative Adversarial Network“  ein machtvolles Tool zur interaktiven Informationsgenerierung und zur Kartierung individueller Restunterschiede ist. Man braucht nicht viel Fantasie, sich auch andere Anwendungen vorzustellen. Dass etwa Versicherungskonzerne mit dieser Methode unwiderstehliche Versicherungsvertreter auf potenzielle Kunden maßschneidern, Partnervermittlungswebseiten im Verbund mit Kosmetikchirurgen vom Aussehen her bei zunehmender emotionaler Verflachung der Suchenden dank medialer Konditionierung super Geschäfte machen. Und Querdenker-Promis facefaken, die dann Hirnschrott  der AfD über politisch unwillkommene demokratische Beschlüsse kippen.

Was war ich froh, dass ich ohne schlechtes Gewissen weiter den stets heiteren „Münster-Tatort“ gucken durfte, weil der echte Jan Josef Liefers sich natürlich nicht an der schändlichen Promi-Schauspieler-Twitter-Aktion „Alles dichtmachen“ beteiligt hatte, sondern facegefaked wurde (und das ist weit ekelhafter als geblackfaced) von Björn Höcke.

War es echt – war es Traum? Ausgerechnet die jüngste Tatortfolge mit Liefers und Urspruch, Titel: „Rückkehr auf den Affenplaneten“ – ansonsten trotz etlicher Morde immer heiter – entwickelte sich für mich zum Horror: Einem Münsteraner Forscherteam um Professor Karl Friedrich Boerne ist es gelungen, Embryonen am Leben zu erhalten, die sowohl aus Zellen von Menschen als auch aus Zellen von Affen bestehen – Chimären. Der Plot wurde konsequent durchgezogen: Bald stellte sich nämlich heraus, dass eine Herde von insgesamt 200.000 Affe-Mensch-Chimären mittlerweile in Höhlen und alten Bundeswehrkasernen lebten. Und sich mittlerweile in affenartiger Geschwindigkeit vermehrten. „Ein unglaublicher Triumph der Wissenschaft – und die Erzeugung des Homo Superior“, tönte Boerne in Talk-Shows aller Sender. „Der Aasee-Mensch – Name der Spezies Homo Boernicus – ist resistent gegen alle bekannten Bakterien und Viren, hat einen Intelligenz-Quotienten von 200 und ist dank seines Vario-Felles gegen Kälte und Hitze gleichermaßen geschützt. Wenn schon nicht die Intelligenz, so kann doch das klimakrisen-schützende Fell dank modulierter Signale bei allen Zuschauern unserer Tatort-Folgen nachgeneriert werden. Ich freue mich auf die Verleihung des Nobel-Preises“.

Das ging mir jetzt doch zu weit – ich bin kein Science-Fiction-Fan, allerdings schon gespannt auf meinen Apple-Distanz-Hirnstrom-Interpreter. Griff nach der Fernbedienung meiner Video-Wand, wobei sich mein Hemdsärmel  nach oben verschob: Statt des ansonsten goldenen Flaums ein dichtes schwarzes kraushaariges Fell. Brave new world …

Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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