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Theo Geißler. Foto: Charlotte Oswald
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Theos Kurz-Schluss: Wie ich mich einmal mit einer politischen Wertedefinition im Kulturbereich auseinandersetzen wollte und trotz ChatGPT-Nutzung keine Lösung fand

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Diesmal gibt’s im „Letzten“ hoffentlich ausnahmsweise nichts zu lachen: Ich gestatte mir ein Reportage- und Lexikon-Pasticcio mit widersprüchlichen Wertungen. Und überlasse der geneigten Leserin, dem geneigten Leser wie eigentlich immer die Wertung innerhalb des angebotenen Themenspek­trums. Das fällt mir angesichts meiner eigenen Ratlosigkeit, was die in diesem Urteilsfeld angewandte Wertebreite betrifft, besonders leicht. Lexikalischer Start: „Kulturelle Aneignung ist ein moralisch-politischer Begriff, der in den letzten Jahren immer häufiger diskutiert wird. Er beschreibt die Übernahme von Elementen einer ›fremden‹ Kultur durch Mitglieder einer ›anderen‹ Kultur. Die Debatte um kulturelle Aneignung ist oft kontrovers und komplex, da sie viele Fragen der Macht, Identität, Geschichte und von kulturellem Respekt aufwirft.“ (ChatGPT)

Ein aktuelles, bedenkenswertes Beispiel aus den Bereichen Boulevard und Blütenzauber, aus dem wirklichen Leben also: „Die Damen des Seniorinnenballetts der Arbeiterwohlfahrt sind zwischen 60 und 82 Jahre alt und Vollblutentertainerinnen. Seit der Gründung 1980 tritt die Truppe in Seniorenheimen, auf Stadtfesten, Geburtstagen, Hochzeitsjubiläen und ­Klassentreffen auf. Wo sie hinkommt, sorgt sie für Stimmung. Für ihren Auftritt kostümieren sie sich angemessen: mit Mexikanerhut oder Kimono oder Pharao-Outfit. Auch steppen können einige der Ehrenamtlerinnen, was die Schuhe zum ›heißen Eisen‹ werden lässt, wie es auf der Website heißt. Zum heißen Eisen wurde das AWO-Ballett jetzt aus einem anderen Grund: Eine für den 19. April geplante Show auf einer Freiluftbühne der Bundesgartenschau in Mannheim wurde gekippt“, wie der Mannheimer Morgen berichtete. Der Vorwurf: kulturelle Aneignung.

Fortsetzung der lexikalischen Einordnung: Ein Beispiel für kulturelle ­Aneignung ist die Verwendung von traditionellen Kleidungsstücken oder Accessoires einer anderen Kultur als Mode oder Kostümierung ohne die angemessene kulturelle Anerkennung oder historische Verbindung – z. B. das Tragen von Federkopfschmuck, der traditionell von indigenen Völkern Nordamerikas getragen wird. Dies hat in der Modebranche in den letzten Jahren zu Kontroversen geführt. Viele indigene Menschen betrachten diese Praxis als respektlos und als eine Form der kulturellen Aneignung, da Designer die spirituelle und kulturelle Bedeutung des Schmucks nicht verstehen oder anerkennen.

Ein weiteres Beispiel für kulturelle Aneignung ist die ­kommerzielle ­Nutzung von kulturellen Symbolen oder Bildern ohne die angemessene kulturelle Anerkennung oder historische Verbindung. Beispielsweise hat das Unternehmen Urban Outfitters in der Vergangenheit eine Reihe von Produkten verkauft, die indigene Motive und Bilder verwenden, ohne dass indigene Künstler oder Gemeinschaften an dem Designprozess beteiligt waren. Dies hat zu Beschwerden von indigenen Menschen geführt, die behaupten, dass das Unternehmen ihre Kultur ausnutzt, ohne ihre Geschichte oder Kultur angemessen anzuerkennen.

Noch ein Beispiel für kulturelle Aneignung ist die Übernahme von musikalischen Genres oder Stilen ohne die angemessene kulturelle Anerkennung oder historische Verbindung. Beispielsweise hat der weiße Musiker Elvis Presley in den 1950er Jahren den Rock ‘n’ Roll populär gemacht, eine Musikrichtung, die aus der afroamerikanischen Gemeinschaft stammt. Einige Kritiker argumentieren, dass Presley als weißer Künstler davon profitiert habe, dass er sich Schwarze Musikstile „aneignet“, ohne den Einfluss und die Beiträge der afroamerikanischen Gemeinschaft angemessen anzuerkennen.

Der Begriff „kulturelle Aneignung“ hat eine lange Geschichte und geht zurück auf Diskussionen über kulturelle Identität und kulturelle ­Appropriation in verschiedenen Disziplinen wie An­thropologie, Soziologie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. In den 1990er Jahren tauchte der Begriff „kulturelle Aneignung“ in der Literatur- und Kulturwissenschaft auf, insbesondere in der Diskussion um postkoloniale Theorie und Kulturkritik. Postkoloniale Theoretiker wie Homi K. Bhabha und Edward Said argumentierten, dass die Kultur der kolonisierten Völker oft von den Kolonialherren „angeeignet“ oder usurpiert wurde. Sie betonten, dass kulturelle Aneignung oft als Form der kulturellen Unterwerfung und Ausbeutung diente, indem sie die Kultur und Geschichte der Unterdrückten entwertete oder auslöschte. In den späten 2000er Jahren wurde der Begriff „kulturelle Aneignung“ in der Popkultur und den sozialen Medien populär, insbesondere durch die Verbreitung von Hashtags wie #culturalappropriation und #appropriation. Die Diskussion um kulturelle Aneignung in der Popkultur wurde von der Tatsache angetrieben, dass immer mehr Prominente, Models und Designer traditionelle Kleidung, Frisuren und Accessoires von ethnischen Minderheiten trugen oder in ihrer Arbeit verwendeten, ohne die kulturelle Bedeutung oder Geschichte zu berücksichtigen.

„Die Diskussion um kulturelle Aneignung hat seitdem an Intensität gewonnen und ist zu einem wichtigen Thema in der öffentlichen Debatte über kulturelle Identität, Gleichheit und Diversität geworden. Während einige argumentieren, dass kulturelle Aneignung eine Form des kulturellen Austauschs und der kulturellen Hybridisierung ist, betonen andere, dass sie eine Form der kulturellen Ausbeutung und Entwertung darstellt und dass es wichtig ist, die kulturelle Anerkennung und Respekt zu berücksichtigen, wenn man Elemente einer anderen Kultur verwendet oder präsentiert.“ (ChatGPT)

Zurück in die Mannheimer Realität. Die Tagesschau meldet: Bei einem Vermittlungstermin zwischen BUGA-Verantwortlichen und der AWO wurde ein Kompromiss ausgehandelt: Die „Weltreise mit dem Traumschiff“ darf auf die Bühne – unter diesem Titel tanzt das AWO-Ballett aus Rheinau in seinem Programm um die Welt. Drei Kostüme werden angepasst. Aus den Pharaoninnen müssen ägyptische Arbeiterinnen werden, die Mexikaner verlieren ihre Sombreros, und die Asiatinnen bekommen modernere Outfits. Für die AWO in Mannheim ein guter Kompromiss.

Bin gespannt, wann das Tragen von Dirndln und Lederhosen samt Gamsbart-Hut auf dem Münchner Oktoberfest nur noch für Bayern mit entsprechender Geburtsurkunde erlaubt wird …


Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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