Im Februar dieses Jahres präsentierte die Dirigentin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin Pilar Jurado in Madrid auf der großen Bühne des Teatro Real mit „La página en blanco“ eine Phantastische Oper. Sie hatte nicht nur den Plot selbst entwickelt, das Libretto verfertigt und zu diesem Text eine mit mancherlei Rückgriff auf ältere Kompositionstechniken operierende Musik geschrieben; bei der Uraufführung sang sie auch die auf den Eigenbedarf zugeschnittene zentrale Partie. Mit Lera Auerbach ließ das Theater an der Wien jetzt ein vergleichbares Multitalent zum großen Zug kommen.
Auch sie schrieb sich den Text für die von ihr komponierte Phantastische Oper „Gogol“ selbst. Auerbach wird inzwischen auch in Deutschland von einem konservativen Netzwerk herumgereicht, u.a. vom Deutschlandfunk, der Staatskapelle Dresden, den Rundfunkorchestern in Hannover und Stuttgart sowie von den Düsseldorfer Symphonikern gefördert.
Im Vorfeld der Wiener „Gogol“-Premiere bekundet sie, dass Neue Musik sie „langweile“. Noch entschiedener als der junge Anno Schreier, dessen „Stadt der Blinden“ drei Tage zuvor am Züricher Opernhaus herauskam, griff die der in der Sowjetunion geborene, in New York lebenden Pianistin, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Auerbach als Komponistin bei ihrer ersten großen Oper auf Schreibweisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, ohne diese einfach zu kopieren. In das reichhaltige Sortiment ihrer ererbten Bauelemente wurde die sentimentale russische Volksmelodie ebenso eingebracht wie die Fortschreibung rhythmisch pointierter grimassierender Schostakowitsch-Passagen und bewährte Patterns der Filmmusik älterer Bauart (vorzugsweise realsozialistischer). Das historisch Geprägte wurde in ein kompositorisches Geflecht sui generis eingebracht, also in mehr oder weniger starkem Maß anverwandelt; auch angereichert mit Klangfiguren und Effekten, wie sie sich erst am Ende des 20. Jahrhunderts eingebürgert haben.
Auerbach versprach vor der Wiener Premiere eine „angstfreie“ Musik – und dies ausgerechnet bei einer Arbeit zum lebenslänglich angstbesessenen Autor Gogol!
Auerbachs Intention ist deutlich und drastisch. Sie will angesichts dessen, was die Mehrheitsmeinung der angloamerikanischen Musikkritik als „angstridden German avant-gardism“ charakterisiert und für eine Kumulation von Irrtümern erachtet, den schon häufiger versuchten dritten Weg beschreiten: gegen die „Kälte“ des konstruktiven Komplexismus und des auch außermusikalisch inspirierten instrumentalen Theaters sucht sie einen Wärmestrom des interessant aufgerauhten Wohlklangs zu setzen, der auf breitere Akzeptanz hoffen kann. Drei Chöre (Arnold Schoenberg Chor sowie Kapellknaben aus Graz und Mozartknabenchor Wien) sind in der Lage, intensive Aura des Glaubensnebengewerbes zu etablierten. Die Frage ist fast müßig, ob die auch von Lera Auerbach eingeschlagene Marschrichtung nun „traditionsbewusster“ ist als Theatermusik, die sich auf die Komponisten der Zweiten Wiener Schule als (Ur-)Großvätergeneration bezieht.
Wohl nicht zufällig besann sich die vom Realismus der Migration geprägte Wissenschaftlerin und Künstlerin auf die vage Idee von „phantastischer“ Oper und ließ diese mit musikalischen Tableaus konkret werden, die von tiefer Sehnsucht nach dem vorrevolutionären Rußland künden. Mütterchen Russland taucht da aus der Kälte auf, der orthodox christliche Teufel und die konfessionsübergreifende Hexe, die Kerze ist das wichtigste Requisit. Überhaupt bleibt das Nostalgiebedürfnis nicht allgemein, sondern kondensiert sich in der exzessiven Beschwörung der wenigstens von landsmannschaftlicher Sympathie begleiteten orthodoxen Religiosität im allgemeinen. Der gläubige Fanatismus Gogols im Besonderen taucht wie eine altgoldene Ikone aus ferngerückten Dunstlandschaften der Geschichte auf.
Interessanterweise operierte die Gesamtkunstwerkerin Auerbach als Librettistin mit avancierten Modellen. Sie verzichtete auf lineare Handlung und narrativen Text, suchte Annäherung an Biographie und Œuvre von Nikolaj Gogol (1809–1852) mit lose gereihten Szenen und luftigen literarischen Metaphern, in denen zunächst eher allgemein die Lebenswelt des nachhaltig wirksamen Autors und Außenseiters aufscheint – mit einem „Wiegenlied an den Mond“ (der, so das Libretto, in Hamburg hergestellt wird und daher aus russischer Sicht nicht wirklich taugt). Annäherung auch vermittels intensiver Blicke auf die Begegnungen Gogols mit dem Knabensopran Nikolka (ahne niemand Böses!) oder mit einer Vorschau auf des Dichters Testamentsabfassung und Begräbnis. Der Autor der sozialkritisch getönten „Toten Seelen“ hat von Seiten der Popen keine Vergebung seiner Sünden zu erwarten – hypothetische Sünden, deren Schatten ihn zunehmend bedrängen. Erst im dritten und letzten Akt geht es mit einer Szene zur völlig vergeblich bleibenden Brautschau Gogols und einer hübsch absurden Gerichtsverhandlung, mit der verhandelt wird, ob der Schriftsteller seine Heimat verraten habe, indem er finsterste Zeiten der russischen Geschichte emphatisch erörterte.
„Aus Jahrhunderten erntete ich nur Schwermut“ – es war, so ruft Lera Auerbach in Erinnerung, ein ziemlich kurzes, aber sichtlich intensives Leben, das in selbstzerstörerischem religiösem Fanatismus endete (aus innerem Reinigungsbedürfnis fastete sich Gogol 1852 in Moskau zu Tode). Nicht viel mehr als zwei Jahrzehnte hatte der Schriftsteller aus Bolschije Sorotschinzy für sein Lebenswerk zu Verfügung: Er debütierte 1829 mit der Versidylle „Ganc Kjuchel’garten“ (Hans Küchelgarten), prägte mit der Komödie „Der Revisor“ und insbesondere mit seinen Erzählungen nicht nur die russische Kultur nachhaltig – mit den Sammelbänden „Mirgorod“ (in dem sich „Taras Bulba“ findet) und „Arabeski“ (mit Novellen wie „Das Portrait“, „Der Newski Prospekt“ und „Die Nase“, der Vorlage für eine munter-surreale Oper von Dmitri Schostakowitsch). Motive aus den verschiedensten Zonen dieser Texte und insbesondere die Nase und deren surreale Metaphorik geistern verschiedentlich durch Auerbachs Arbeit.
Altrussische Winterkostüme von Kaspar Glarner mit den uniformen Mützen in grellen Farben treten in Kontrast zum gedeckten Weiß des Schnees auf der Bühne (überhaupt schüttet die Ausstattung wahre Füllhörner der Nostalgie aus). Johannes Leiacker hat ein einprägsames Winterbild kreiert: in der nach hinten ansteigenden Fläche zeichnen sich – in Anlehnung an ein berühmtes Foto vom Petersburger Blutsonntag 1905, bei dem vor dem Winterpalais an die tausend Demonstranten erschossen wurden – Aussparungen in Form liegengebliebener menschlicher Körper ab, deren Restwärme die dünne Schicht trockenen Schnees angetaut hat, bevor diese Stellen wieder zugefroren sind (sie dienen als Zugänge zur Unterwelt oder erlauben deren Griff nach oben). Über dieser hellen Fläche mit den dunklen Flecken entfaltet die Inszenierung von Christine Mielitz fast durchgängig Geschäftigkeit, bringt die Chöre mit Hilfe einer DDR-bewährten Tanzmeisterin in ordentlich betriebsame Stellung. Sie bietet sogar, als wäre der Musik nicht über den Weg zu trauen gewesen, einen Geigenengel aus dem Geiste Marc Chagals auf, der am Firmament turnt. Maschinenzaubertheater und spezial effects haben an diesem Ort seit Emanuel Schikaneders Tagen durchaus Tradition. Insgesamt hat der neualtrussische Bühnenzauber schwer Geld gekostet (für konservative Manifestationen dieser Art ist es vorhanden).
Da er für die Premiere vorgesehene Hauptdarsteller ausfiel, wurde seine ausladende Partie auf Martin Winkler und Otto Katzameier aufgeteilt, die Spaltung der Rolle mit Hinweisen auf die gespaltene Persönlichkeit Gogols schmackhaft gemacht (aber theatral nicht wirklich plausibel). Beide Protagonisten haben sich tapfer durch das schwierige Terrain bewegt, sängerisch und als Darsteller eines sensiblen Intellektuellen. Anna Gorbachyova imponierte als eine der Bräute und Nymphe mit irisierend schön gesungenen Höhen über einer von Vladimir Fedoseyev umsichtig-moderat geleiteten Aufführung. Kaum umfassend auszuloten nach einmaligem Hören und Sehen ist deren erheblicher Komplexionsgrad, der sich durch die literarischen Ambitionen, die stilistischen Fächerungen der musikalischen Komposition, eine höchst abwechslungsreiche Kostümierung und die allzeit auf Trapp haltende Personenführung sowie durch Bewegungschöre, Tanzeinlagen und die Luftartistin ergibt.
„Einen zweifelnden Kritiker“, meinte Nikolaus Harnoncourt unlängst in einem Statement, habe er „noch nicht erlebt“. Wäre der Alte Herr der Alten Musik bei der Premiere an der Wien gewesen, hätte er wohl nicht nur mich zweifeln gesehen: ob dieser so dreifach vergangenheitsorientierten Form des Musiktheaters von Auerbach, Gogol und Mielitz die Zukunft gehört. In Erinnerung bleiben wird mir der Schlussmonolog: „Nebel breitet sich aus“.