Genau ein Jahr nach dem aufsehenerregenden Pilotprojekt der Live-Übertragung von Verdis „Traviata“, die im Hauptbahnhof Zürich inmitten Scharen von Pendlern zur Aufführung gekommen war (siehe nmz 11-08 ), unternahm das Schweizer Fernsehen nun am 30. September seine nächste Opernproduktion an einem Realschauplatz: „La Bohème“ von Puccini, live gesendet aus einem Wohnquartier am Stadtrand von Bern. Ort der Handlung war Block 3, Gäbelbachstraße 31-47 in 3012 Bern, eine riesige Wohnmaschine im Corbusier-Stil aus den sechziger Jahren, samt näherer Umgebung.
Oper trifft auf heutige Wirklichkeit: Das ist die Formel für die Dramaturgie, die nach der höchst erfolgreichen „Traviata“ vom letzten Jahr nun auch für die „Bohème“-Produktion galt. Raus aus der Guckkastenbühne und der abgeschlossenen Realität des Opernhauses, hinein ins pralle Leben. Die vier Künstler, die im ersten Akt das Manuskript des Dichters verheizen, um in ihrer zugigen Absteige ein bisschen warm zu bekommen, befinden sich in der Waschküche des Wohnblocks und zünden das Papier in einer Zentrifuge an. Hinter ihnen füllen zwei Anwohnerinnen ihre Waschmaschinen mit Wäsche. Geliebt und gelacht wird in einer Wohnung einige Stückwerke höher – die Bewohner haben sie in ihrem alltäglichen Zustand für die inszenierung zur Verfügung gestellt.
Der zweite Akt, der bei Puccini auf einem Pariser Weihnachsmarkt spielt, wird ins nahe Einkaufscenter verlegt, wo Mimi und Rodolfo den Boutiquen entlang flanieren und im dicht bevölkerten Café im Hintergrund Musette und Marcello ihre fulminante Eifersuchtsszene aufführen. Die Schlussszene, dieses großartig komponierte Bild elender Hilflosigkeit angesichts von Mimis Tod, spielt zwischen den kalten Betonpfeilern der Bushaltestelle. „Endstation“ ist als Fahrtziel am Bus angezeigt, an dessen Tür sie stirbt.
„Die Bohème ist eine Wohnoper“, antwortet Thomas Beck, Leiter der Musikredaktion des Schweizer Fernsehens und Spiritus rector des komplexen Unternehmens auf die Frage, warum das Werk hierher verlegt wurde. Das Geschehen spiele sich hauptsächlich in Innenräumen ab, es gehe um Wohnungsnot, unbezahlte Mieten und das Zusammenleben der Menschen Tür an Tür. Insofern konnte ein auratischerer Ort schwerlich gefunden werden, und auch das Einkaufszentrum war die passende aktuelle Entsprechung zum Weihnachtsmarkt bei Puccini. Wie schon bei der „Traviata“, die inmitten der abendlichen Pendlerströme im Bahnhof zur Aufführung kam, wurde auch diesmal das Laufpublikum zwanglos in die inszenierung einbezogen: Anwohner, die zum Teil von ihren Balkonen herab auf die im Freien spielenden Szenen schauten, Konsumenten beim Einkaufen, Neugierige, die eine bunte Kulisse hinter den Protagonisten bildeten.
Für die künstlerische Seite zeichnete das Stadttheater Bern verantwortlich. Maya Boog als Mimi und Saimir Pirgu als Rodolfo waren ein vorzüglich aufeinander abgestimmtes Liebespaar, das sich durch die ungewohnten Umstände nicht von seiner lyrischer Innigkeit abbringen ließ, Eva Liebau als kapriziöse Musette und Robin Adams als ihr eifersüchtiger Geliebter sorgten für die deftig-komischen Akzente im traurigen Geschehen.
Das Orchester unter der Leitung von Srboljub Dinic spielte in dem einige hundert Meter entfernten Konsumtempel und konnte von den Sängern nur über Ohrhörer und teilweise über Monitore gehört werden. Dass es zu keinen Pannen kam, ist das Verdienst einer perfekten Technik, dass die musikalische Koordination praktisch gleich gut klappte wie zwischen Bühne und Orchestergraben, verdankt sich den ungemein anpassungsfähigen Solisten, die sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die wechselnden Schauplätze bewegten. Die Anspannung hielt sie nicht davon ab, in den Aktpausen der Fernsehreporterin noch locker Fragen über ihre Erfahrungen während des Spiels zu beantworten.
Die schwierige Aufgabe einer Inszenierung, die am Realschauplatz nur in Einzelfacetten wahrgenommen werden kann und sich erst am Bildschirm zu einem sinnvollen Ganzen fügt, lag bei Felix Breisach. Mit seiner präzisen Personenführung lieferte er die Bilder, die im technischen Medium des Fernsehens realitätsgerecht ankamen. Etwas gestellt wirkte einige Male nur die Einbeziehung von Laienstatisten für Hintergrundhandlungen; die Zufallsstatisten waren allemal lockerer und dem realistischen Konzept angemessener.
Mit dieser Produktion hat das Schweizer Fernsehen nun schon zum zweiten Mal erfolgreich gezeigt, wie die klassische Guckkastenform Oper mittels heutiger technischer Mittel transformiert werden kann. Sie verbindet sich mit der Alltagswirklichkeit, doch sie geht nicht einfach in ihr auf. Vielmehr wird sie in eine neue Wirklichkeit überführt, und das ist die Wirklichkeit des Bildschirms – erst hier nimmt sie ihre Gestalt als integrales künstlerisches Produkt an. Das ästhetische Potential des Fernsehens ist noch lange nicht ausgeschöpft, und dass auf diese Weise auch ganz neue Publikumsschichten erschlossen werden können, zeigte sich an den begeisterten Rückmeldungen schon in den Sendepausen. Und noch etwas lässt sich aus dem gelungenen Experiment dieser Sendung schließen: Oper, wenn sie interessant und mediengerecht präsentiert wird, widerspricht nicht einmal der Quotenlogik. Abends um acht zur Primetime, die in der Regel nur der platten Unterhaltung vorbehalten ist, hatte diese „Bohème“ in der Schweiz immerhin 347.000 Zuschauer, der zugeschaltete Kulturkanal Arte nicht mitgerechnet. Das entspricht einem Marktanteil von 29,5 Prozent.
Es könnte nicht schaden, wenn sich das Fernsehen das nächste Mal in eigener Sache noch etwas mehr zurückhalten würde. Das Verlesen von E-Mails begeisterter Zuschauer kann auf Dauer als durchsichtige Eigenwerbung wirken. Und dann meinte vor allem die von professionellem Glitzerlächeln beseelte Kommentatorin von Arte mehrfach, die Anwohner der Berner Gäbelbachstraße auf ihr Glück aufmerksam machen zu müssen, dass nun die große weite Welt des Fernsehens und der Oper bei ihnen zu Gast ist. Die Talk-Down-Attitüde der mit geliehener Macht ausgestatteten Moderatorin: In dieser Herablassung zeigte sich der mondän verkleidete Provinzialismus des heutigen Medienspießers.
Bis 4. Oktober ist die Aufzeichnung der Live-Übertragung im Stream auf der ARTE-Website zu sehen.