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Georg Nigl als N. und das Ensemble in Wolfgang Rihms „Dionysos“ in Berlin. Foto: Ruth Waltz
Georg Nigl als N. und das Ensemble in Wolfgang Rihms „Dionysos“ in Berlin. Foto: Ruth Waltz
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Toll-skurriler Philosoph in handlungsarmem Gedankengebäude: Deutsche Erstaufführung von Wolfgang Rihms „Dionysos“ an der Staatsoper Berlin

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Wenige Tage vor seiner Einlieferung ins Baseler Irrenhaus hatte Friedrich Nietzsche seine Dionysos-Dithyramben verfasst und sie als intime Liebeserklärung an die leidenschaftlich geliebte Witwe Richard Wagners nach Bayreuth gesandt. Um diese Hymnen auf Dionysos kreist Wolfgang Rihms Opernphantasie, die in Flimms letztem Salzburg-Jahr ihre Uraufführung erlebt hatte und nun als letzte Staatsopern-Premiere vor dem Beginn der Wagner-Spielzeit in Berlin herauskam. Die Koproduktion mit Amsterdam und den Salzburger Festspielen des Jahres 2010, trat für die Deutsche Erstaufführung in veränderter Besetzung der Titelpartie an.

Vor Beginn der Rihm-Premiere, im Rahmen des derzeitigen Staatsopern-Festivals „Infektionen“, machte Hausherr Jürgen Flimm seine Ansage der Indisposition des Hauptsolisten zu einer heftig beklatschten, kabarettistisch angehauchten Lachnummer. Der neben dieser kaum merklichen Erkältung nicht sehr textsichere Bariton Georg Nigl verfügt ebenfalls über kabarettistische Qualitäten, mit denen er bisweilen die Lachmuskeln des Publikums zu reizen versteht. Das ist ungewöhnlich in einer zeitgenössischen Oper. Hatte Bariton Johannes Martin Kränzle bei der Uraufführung in Salzburg (anstelle des dort ursprünglich angekündigten Matthias Goerne) insbesondere das Changieren zwischen Rausch und Krankheit als Prozess des schleichenden Wahnsinns deutlich gemacht und N. vom Hervorrülpsen der ersten Worte bis zur körperlichen Selbstzüchtigung als wilden, sprechsingenden Dionysos und Belcanto-Salonlöwen interpretiert, so zeichnet Nigl den N. stimmlich recht monochrom, darstellerisch aber als toll-skurrilen Philosophen mit Witz à la Buster Keaton.

Dass Rihms Protagonist N. kein anderer als Nietzsche ist, daran zweifelt angesichts der Nietzsche-Maske des Protagonisten wohl keiner. Weniger Besucher hingegen assoziieren mit der Partie „ein Gast“ Nietzsches Freund Peter Gast (bürgerlich: Heinrich Köselitz), den Komponisten der Oper „Der Löwe von Venedig“, die als Ausgrabung in Annaberg-Buchholz angekündigt ist.

Rihms zehnte Partitur für das Musiktheater bewährt sich bei der Wiederbegegnung. Bleibt der Mangel an Inhalt unbefriedigend, leuchten unter Ingo Metzmachers musikalischer Leitung um so stärker die wirkungsstarken Klangbildungen in freier Tonalität. Zu den schönsten musikalischen Momenten gehört das Ausspinnen des Nietzsche-Gedichts „Tag meines Lebens“ (exemplarisch vertont von Erich J. Wolff, auf CD bei Thorofon CTH 2585), zunächst als Quartett der Damen, dann als Duett von N. und seinem Freund Gast, alias Dionysos und Apollon. Noch deutlicher als beim DSO Berlin in der Uraufführung, bricht sich mit der orchestral glänzenden Staatskapelle Berlin die Dominanz der Zitate Raum, von den Rheintöchter-Allusionen mit dem Wagnerschen Thema des Verlachens, über die Figur der Ariadne zu Richard Strauss. Daneben noch Rihms Eigenzitate und Nachäffe-Komik, vom Delphin-Gesang bis hin zum Miauen. Metzmacher ziseliert Rihm wie eine spätromantische Partitur und badet in Walzerseligkeit und postmoderner, verhaltener Schönheit.

Gleich N. liebt es Ariadne, gefesselt zu werden, und gleichermaßen stimmlich und körperlich nach Fesselung und Kopulation girrend, trägt die Sopranistin Mojca Erdmann mit melodischer Verführungskraft den roten Faden des Schöngesangs auch in das Quartett der Huren. Das vokale Frauenquartett ist, wie schon in Salzburg, auch in Berlin besetzt mit Elin Rombo, Virpi Räisänen und Julia Faylenbogen, sowie mit Mojca Erdmann, die im vierten Teil der Opernphantasie auch das geschundene, von Nietzsche verteidigte Pferd darstellt und schließlich als Pietà die Haut des von Apollon Gehäuteten in ihren Armen hält. Einen dem N. stets an Erfolg überlegenen Gast und Apollon verkörpert der Tenor Matthias Klink mit apollinischer Strahlkraft.

Jonathan Meeses Ausstattung hat in den vergangenen zwei Jahren merklich an Provokation eingebüßt; während in einer Wahnsinnsversion der aktuelle N.-Darsteller live in Martin Eidenbergers Video-Kunstfilm eingeblendet wird, ist die Übertragung aus dem großen Foyer der Salzburger Festspiele, die im August 2010 wie eine Live-Einblendung wirken und so den Bogen von der lautstark small-talkenden Pausen-High-Society zum Geschnatter im Bordell auf der Bühne schlagen sollte, nun nicht nur deplatziert, sondern historisch entrückt. Auch Meeses utopischer Entwurf der „Diktatur der Kunst“ ist merklich verblasst, das Eigenleben von N.s Haut, getanzt von Uli Kirsch, und die in überzogener Nacktheit mit betont übergroßen Geschlechtsorganen Tiere säugenden Frauen haben heute mehr komische, denn schockierende Wirkung.

Pierre Audis Personenführung in Meeses Bilderwelt antirationaler Rauschzustände hat jedoch nichts an Intensität eingebüßt. Stark bleiben die Farblichteffekte und der kollektiv die Einheitszeitung „Nietzsche Total“ lesende Chor, in Berlin einstudiert von Frank Flade.

Zahlreiche Besucher verließen das Schillertheater in der Pause und verpassten so den musikalisch opulenteren, zweiten Teil des gut zweieinhalbstündigen Theaterabends. Der Applaus am Ende war durchaus heftig, Bravorufe für die Solisten und für den Dirigenten schlossen wohl auch den vom Intendanten als krank entschuldigten, abwesenden Komponisten mit ein; das Produktionsteam, rund um Regisseur Audi und Bühnenbildner Jonathan Meese, musste hingegen auch einige Buhrufe einstecken.

Weitere Aufführungen: 10. , 13. und 15. Juli 2012.

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