Eine Ausgabe Tage Alter Musik Herne, die (fast) jeden erfreut hat und in der tatsächlich auch (fast) alles hocherfreulich war. Gelernt haben wir vor allem wieder einmal, dass alt etwas anderes ist und sein kann als veraltet.
Ein erstes Indiz darauf lieferte bereits die Festivalstatistik: Dass Kurator Richard Lorber vom Westdeutschen Rundfunk für die zehn Konzerte dieser 37. Tage zehn Debüts ankündigen konnte, spricht für sich. Vor allem aber für eine Szene, deren Ensemble-Reservoir einem Springquell vergleichbar ist. Immer kommt Neues nach. Zum Beispiel: Scherzi Musicali, ein junges belgisches Ensemble, das in seinem Debütkonzert den ganzen Umfang seines Namens abbildete. Mit der Heiterkeit der musikalischen Intermezzi zu „La Pellegrina“ (Komödie zu einer florentiner Medici-Hochzeit 1589) ging es erst los. Denn immerhin – die Intermezzi-Komponisten Giulio Caccini, Jacopo Peri und Emilio de’ Cavaleri waren ja nun einmal an einem weiteren, ungleich wichtigeren Projekt beteiligt, dessen Folgewirkungen nicht nur die diesjährigen Herner Alte Musik-Tage in Gestalt eines Kulturpolitischen Forums beschäftigten, sondern die seitdem die Musikwelt ziemlich komplett in Atem hält: die Erfindung der Oper aus dem Fruchtwasser eines „recitar cantando“, aus dem „neuen Stil“ eines rezitierenden Gesangs.
Nadelöhr
Stichwort für eine Podiumsdiskussion, auf der Sigrid T’Hooft und Jens-Daniel Herzog auf hohem Niveau aneinander vorbeiredeten und sich doch einig waren in ihrer Liebe zur Barockoper, die so viele verschiedene Zugänge schafft und aushält. Dürfen, ja, müssen wir „interpretieren“ wie dies Herzog meint oder können, ja sollen wir, Credo der Choreografin T’Hooft, die Werke „selber sprechen lassen“? In beiden Fällen übrigens mit Verweis auf denselben vierhundertjährigen Zeit- und Mentalitätsgraben, der uns von der Welt der Peris, Cavalleris, Caccinis, Monteverdis trennt. Nur, dass die Distanz für T’Hooft gerade das Reizvolle ausmacht, wohingegen sie Herzog nach dem „Regietheater“ rufen lässt. Ein Streit, der in Herne nur untergründig ausgetragen werden kann und konnte. Zwar kam und kommt auch in Herne die Barockoper zur Aufführung, aber eben ohne Szene. Was weniger zu tun hat mit den Herner Spielorten Kreuzkirche und Kulturforum als mit dem Format, das vom finanzierenden Hauptträger Westdeutscher Rundfunk vorgegeben wird: Was immer um die tragischen Helden Orpheus und Euridice, Paris und Helena herumkomponiert worden ist, muss in Herne durchs Nadelöhr des Kulturradios.
Welche Herausforderungen hierin für die Ausführenden liegen, welche Chancen und welche Risiken sich bieten – dies brachte der Schlusstag des Festivals an denselben. So ordentlich nämlich Wolfgang Katschners Lautten Compagney Berlin und ein siebenköpfiges Sängerensemble musizierten und agierten – die Wiederausgrabung der Leipziger Bürger-Oper „Paris und Helena“ (1710) von Johann David Heinichen erhob sich nicht aus dem Konventionellen. Geschuldet war dies sicher den Untiefen einer Beziehungskomödie, die die Paar-Dynamik noch verklemmt als „Seitensprung“ versteht, was sie von der Cosi fan tutte-Dimension um Lichtjahre entfernt scheinen lässt. Hier hätte eine verständnisvolle Dramaturgie mit Mut zu größeren Strichen arbeiten müssen, da der Heinichen-Witz doch mittlerweile starke Rostansätze zeigt. Hinzukam, dass die herkömmlich gestaffelte Aufstellung – Orchester hinten, Sänger auf Stühlen an der Rampe – weniger bekömmlich ist als dass sie auf die Dauer das Gähnen befördert. Herne unter Herne-Niveau.
Orpheus redivivus
Gerade war man ja noch Zeuge gewesen, wie es auch gehen kann. Sicher, Scherzi Musicali sind kein Orchester, sondern ein (ebenfalls siebenköpfiges) Sänger-Instrumentalisten-Ensemble. Nur eben, dass im Fall der jungen Belgier die Aufteilung in Vorder- und Hintergrund, in „Begleitung“ und „Gesang“ (dem Prinzip nach) seinerseits aufgehoben ist. Was auf dieser Grundlage hier geschah, war ganz enorm, blieb spannend, bannnend bis zur letzten Minute. Selten hat man Peris und Caccinis „Euridice“ so inspirierend gehört wie hier. Und auch de’ Cavallieris hochpilosophisches Thesen-Oratorium „La Rappresentatione di Anima e di Corpore“ gerät ansonsten gern zur starren Pflichtübung. Nicht so hier. Was sich neben der profunden Musikalität der Scherzi Musicali auch deren dynamischem Verständnis von Arbeitsteilung verdankt. Da gibt es kein hinten und kein vorn, kein wichtig und weniger wichtig. Der knarrende Auslöse-Ton der Theorbe steht völlig gleichberechtigt neben dem kunstvollen Gesang von Reinoud van Mechelen und Nicolas Achten.
Letzterer ist überhaupt das Phänomen dieser erstaunlichen Truppe. Der hoch gewachsene Gründer und Leiter der Scherzi Musicali repräsentiert den Typus des Multitaskers, der von der Natur wie von der Theater-Intendanz eher selten besetzt wird. Wie so was aussieht? Erst steht Achten nur da, gibt, fast unmerklich, Zeichen an die Mitmusiker, spielt im nächsten Moment dann seine körperlange Theorbe, lässt sie bald wieder vor dem Bauch hängen, nur um in die Saiten der vor ihm aufgestellten Harfe zu greifen und – dazu zu singen. (Hat zuletzt Paul McCartney so gemacht, in etwa jedenfalls.) Ganz toll dieser famose Kerl, dieser wiedererstandene Orpheus von Peris und Caccinis Gnaden, womit wir dann aber auch schon die entsprechende Empfehlung parat hätten: Auf Achten achten!