„Ich liebe ihn wie ein buckliges Kind“ soll Verdi über seine anfangs wenig erfolgreiche Schiller-Vertonung der „Verschwörung des Fiesco zu Genua“ gesagt haben. Zusammen mit dem singulär opern-affinen Arrigo Boito hat er ihn 1881 überarbeitet. Dennoch ist es ein schwieriges und in seiner Aussage resignatives, ja schwarzes Werk geblieben, mit Einsichten über Menschen, Gesellschaft und Politik, die am ehesten reife, erfahrene Männer tief und bewegend empfinden.
Der 43jährige Dmitri Tscherniakov, eben für seine Regie-Leistungen mit dem International Opera Award ausgezeichnet, wollte helfen – und dann aber auch zeigen, dass er etliches im Werk anders sieht. Für alle, die Aufstieg und Fall des Genueser Dogen Boccanegra nicht so gut wie die Handlung anderer Verdi-Klassiker kennen, hat Tscherniakov vor jeder Szene erläuternde Texte auf die Zwischenvorhänge projizieren lassen – eine wirkliche Verständnishilfe in Ergänzung der deutschen Übertitel.
Was er anders sieht, hat er vorweg erklärt: er misstraut der Geschichte. Warum inszeniert er sie dann? Hält er sich für irgendwie „besser“ als Verdi und Boito? Konkret: der plebejische Korsar Boccanegra liebt die Patriziertochter Maria und hat ein verheimlichtes Kind mit ihr; beide werden vom hasserfüllten Vater getrennt; während er zum Dogen aufsteigt, stirbt sie und die Tochter Amelia wird geraubt und über eine Adoption zur verfeindeten Patriziertochter; nach 25 Jahren finden sich die beiden in einer der bewegendsten Erkennungsszenen der Opernliteratur als Vater und Tochter – das glaubt Tscherniakov „dem verzuckerten Duett“ nicht: Amelia nutzt ihn nur als Vater-Projektion und will aufsteigen; der von Politintrigen umgebene und dadurch abgehärtet misstrauische Boccanegra könne nie und nimmer so ein Tochter-Wunder glauben.
Boitos Text, Verdis bewegende und menschlich tiefe Musik allein widerlegten in der Aufführung all dies, mehr noch: Kristine Opolais’ Amelia und Željko Lučičs Boccanegra spielten zwar das Misstrauen und Zögern gut aus – aber dann doch eine anrührende Erkennensszene - wie im Werk schon überragend gestaltet.
Zweite grundlegende Diskrepanz: Boccanegra scheitert mit „Pace e amor“, seiner Politik der Versöhnung und Begnadigung; er stirbt vergiftet, langsam und quälend in einer viermal sein geliebtes Meer beschwörenden Schlussszene. Nochmals Tscherniakov: Gift, Intrige, Mord sind „Opernkonventionen“, weshalb der Titelheld sein bisheriges Leben hinter sich lässt – und geht. Lučič nahm also gehorsam das Giftwasser nur in die Hand, sang original davon, dass es „bitter schmecke“, trank nicht – doch in der folgenden Viertelstunde singschauspielerte er einen vergiftet Sterbenden so eindringlich, dass sein Gang um die Ecke des Konferenzsaales ein Gang in den Tod war.
Tscherniakovs Bühnenbild-Aktualisierung, den Prolog vor einer Edward-Hopper-Bar mit Mafia-Personal spielen zu lassen, dann Amelia in ihrem gestylten Zuhause ohne Meer das Meer besingen zu lassen und alles weitere in einen hinderlich eckigen, zusätzlich hinderlich bestuhlten kahlen Seminarraum zu verlegen, brachte nirgendwo Gewinn, Tiefe oder legte neue Werkschichten offen. All dies, obwohl Tscherniakov diese Inszenierung schon 2011 an der Londoner ENO herausgebracht hat: Überarbeitungsgewinn bei der Übernahme nicht erkennbar.
Musikalische Rettung auf Staatsopernniveau? Leider nur bedingt. Dirigent Bertrand de Billy spannte die Extreme der Partitur nicht grandios weit, musizierte eher matt und wirkte so „spannungslos lang“. Kristine Opolais besitzt einen schönen „geraden“ Sopran, dem italienische „dolcezza“ fehlt: prompt rührte sich nach Amelias eigentlich beifallsträchtig traumschöner Meeresbeschwörung keine Hand. Stefano Secco musste als Amelias geliebter Adorno bis zur Hochzeitsszene grässlich gestylte Motorradkluft tragen, die seine Bühnenerscheinung eher lachhaft machte, dafür verstrahlte er metallische Tenorhöhen. Das gute Nebenrollen-Ensemble führte Vitalij Kowaljow als Fiesco mit rundem Bass an.
Alle überragte Željko Lučičs Boccanegra: er ist seit seinem von Christof Loy geprägten Frankfurter Boccanegra gereift; er kann machtvoll tönen und dann in fahle Resignation zurücknehmen; er kann überbordende Emotion leuchten lassen und dann in intim-warmem Piano ausschwingen. Um ihn war Verdi-Boitos Kernbotschaft: Man kann die Übel der Politik nicht politisch beseitigen. Man kann Politik nicht durch Naivität überwinden. Man kann aus Liebe keine Politik machen. Simon Boccanegra durchlebt keine politische Tragödie, sondern die Tragödie aller Politik.