Streben nach dem höchsten Gewinn, zeichnet Hermann, die männliche Spieler-Hauptfigur in Pjotr Tschaikowskis 1890 in St. Petersburg uraufgeführter Oper „Pique Dame“ aus. Hermann nimmt die Fama einer Gräfin, die in ihrer Jugend als „Venus von Moskau“ in Paris für Furore gesorgt hatte, und die einem späten Liebhaber das Geheimnis eines todsicheren Tipps fürs Karten-Glücksspiel verraten könne, für bare Münze. Mit Hilfe ihrer Enkelin Lisa schleicht er sich bei ihr ein und bedroht sie mit der Pistole: Die Gräfin stirbt, aber ihr Astralleib verrät Hermann die Sieg-bringenden Karten.
Er setzt auf diese, gewinnt auch mit Drei und Sieben, verliert aber Alles, als er aufs As setzt, denn die richtige Karte ist Pik-Dame, – und so bringt sich Hermann am Ende um.
Stand bei Puschkins Vorlage-Novelle im Jahre 1833 der negative Held für das kranke Unterbewusstsein und in Tschaikowskis Oper für den „Mythos Petersburg“, so wird in der jüngsten Neuinszenierung von Thilo Reinhardt an der Komischen Oper Berlin daraus ein deutscher Ingenieur der Gegenwart (Kostüme: Katharina Gault). In einer postsozialistisch tristen Hotel-Lounge als Einheitsraum á la Anna Viebrock (Bühne: Paul Zoller) dient das Mobiliar als Wurfgeschoss. Hier laufen nahtlos die vier Bilder bis zur Pause, aber trotz mancher ungewöhnlicher Einfälle – etwa der Demonstration eines kleinen Totenschädels als Auftritt der Zarin – wenig fesselnd.
Wäre da nicht die Gräfin, die hier nicht (wie sonst zumeist) im Rollstuhl, sondern munter aus einem verspiegelten Lift auftritt, um dann zunächst recht belanglos durch die Gesellschaft zu flanieren. Diese Paraderolle von Martha Mödl gibt nun Anja Silja, das einstige Sanges-Wunderkind und die Muse Wieland Wagners. In den vergangenen Jahren reüssierte die Silja besonders häufig als 300-jährige, ewig junge Emilia Marty in Janáceks „Die Sache Makropoulos“. In „Pique Dame“ macht die inzwischen 69-jährige, schlanke Sängerdarstellerin die französische, ariose Soloszene, mit der sich die Gräfin beim Auskleiden an ihre große Zeit in Paris erinnert, zu einem atemberaubenden Erlebnis. Dies hält auch noch an, als Hermann die alte Gräfin besteigt und sie mit der Pistole zu Tode erschreckt. Ja selbst als Leiche hat diese Tragödin eine faszinierende Ausstrahlung.
Diese scheint sogar auf die Dichte des dritten Aktes abzufärben, da in der nun chaotisch verwüsteteten Hotel-Lobby auch zwischen den anderen Handlungsträgern größere Spannung entsteht. Wie in Hitchcocks „Psycho“ travestiert Hermann selbst zur Gestalt der Gräfin. Lisa ertränkt sich nicht im finsteren Winterkanal, sondern wird zunächst von den Herren der Spielergesellschaft geschändet und endet dann als Trinkerin. Schon in den letzten Dezennien haben Regisseure die Handlung gerne auf die Psychose des Hermann verkürzt und dabei auch auf musikalisch auf Verdichtung gesetzt. In Karlsruhe wurde 1990 mit großem Erfolg eine Fassung vorgestellt, die sich durch Kürzungen, Umstellungen, teilweise Uminstrumentation und von Alfred Schnittke nachkomponierte Szenen Puschkins Original annäherte.
In Berlin erklingt Tschaikowskis Partitur hingegen in vollem Umfang, mit all den retardierenden Genreszenen des Dienstpersonals und der Standesgesellschaft, jedoch, der Tradition des Felsenstein-Hauses getreu, auf Deutsch, – in einer Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze. Trotz der Bewegung, auf die der Regisseur setzt, geraten insbesondere die Genreszenen in der über dreistündigen Aufführung allzu retardierend. Hier ist vor allem das neobarocke Intermezzo des zweiten Aktes zu nennen: Prilepa, Milowsor und Slatogor werden hier zu Rivalen des Hammer- und Sichel-Arbeiters Chloë und des Gold-Kapitalisten Plutus, im sexistischen Ringen um Daphnis; besetzt sind sie mit stimmlich noch sehr schwachen Mitgliedern des Opernstudios.
Stimmgewandt kraftvoll – und spielfreudig wie eh – brillieren die von Robert Heimann einstudierten Chöre, jedoch unter Verzicht auf die von Tschaikowski verlangten Kinder. Während Kor-Jan Dusseljee die hier intendierte Psychose des Hermann weder stimmlich noch darstellerisch überzeugend verkörpert, läuft Orla Boylan als Lisa im Schlussakt zu echtem Profil auf, als eine auch stimmlich würdige Enkelin der Gräfin. In der kleinen Mezzopartie der Polina gefällt Karolina Gumos. Dirigent Alexander Vedernikow setzt mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin auf die symphonisch packende Verarbeitung des motivsch-thematischen Materials, in reinen Orchsterpassagen bisweilen krachend grobschlächtig, aber doch auch als gekonnter Sänger-Begleiter. Am Ende des Premierenabends wurden den Mitwirkenden und auch dem Regieteam einhellig applaudiert.