Wie wird ein Ort zur bedeutenden Musikstadt? Wohl kaum dadurch, dass er sich gegen fremde Einflüsse verschließt. Wien, über Jahrhunderte der Regierungssitz eines Vielvölkerstaats, profitierte vom Zustrom der Tschechen, Ungarn, Deutschen, Italiener, Polen und Juden. Viele der dort wirkenden Komponisten waren Zugereiste: Mozart kam aus Salzburg, Beethoven aus Bonn, Brahms aus Hamburg. Der Vater Arnold Schönbergs stammte aus Ungarn.
Auch Berlin hatte sich erst durch den Zustrom von Fremden zur Metropole entwickelt. Zwanzigtausend französische Hugenotten ließen sich am Ende des 17. Jahrhunderts in Preußen nieder und erhielten dort besondere Privilegien. In Berlin schufen sie die Stadtteile Dorotheenstadt und Friedrichstadt, um 1700 sprach ein Fünftel der Einwohner Französisch. Französische Einflüsse prägten die deutsche Kultur, die sich dem Fremden öffnete und von ihm fasziniert war. Johann Joachim Quantz, der Flötenlehrer Friedrichs II., sprach vom „vermischten Geschmack“, zusammengesetzt aus verschiedenen nationalen Quellen, der für die deutsche Musik typisch sei.
Wie die Hugenotten flohen auch die Böhmischen Brüder vor religiöser Verfolgung ins tolerantere Berlin, gefolgt von Juden und Polen. Auf der Flucht vor der Russischen Revolution kamen in den 1920er Jahren zeitweise mehr als 350.000 Russen in die deutsche Hauptstadt. Viele von ihnen ließen sich in Charlottenburg nieder, das deshalb Charlottengrad genannt wurde. Unter diesen Russen waren viele Künstler, Maler, Schriftsteller und Verleger. Nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie strömten aber auch aus Wien und Budapest Künstler und Intellektuelle nach Berlin, darunter Joseph Roth, Robert Musil, Franz Schreker, Arnold Schönberg, Ernst Krenek, Paul Abraham, Erich Kleiber. Die Vielfalt der Kulturen, die an der Spree aufeinander trafen, war die Wurzel jener sogenannten Goldenen Zwanziger, an die man sich bis heute sehnsuchtsvoll erinnert.
Exodus und Aderlass
Es gab freilich Menschen, die diese Vielfalt als „Überfremdung“ kritisierten und bekämpften. Schockiert über das Ende des Kaiserreichs und die Weltkriegskatastrophe begriffen Konservative und Deutschnationale die deutsche Musik als seelischen Rettungsanker – als spezifischen Ausdruck des Nationalcharakters, den man gegen Einwirkungen von außen verteidigen müsse. Hitlers NSDAP rief in den zwanziger Jahren einen „Kampfbund für deutsche Kultur“ ins Leben, der sich die Abwehr fremder Einflüsse zum Ziel setzte. Man ging von der Überlegenheit der arischen Rasse aus und verstand die Kunst als deren Ausdruck. Rassenpolitisch motivierte „Säuberungen“, die Vertreibung von Ausländern und Juden, sollten ab 1933 die deutsche Kultur zu ihren angeblichen Wurzeln zurückführen.
Der Exodus der als unerwünscht erklärten Künstler bedeutete einen enormen Aderlass für die deutsche Musikkultur. Die Länder, in denen sich die Flüchtlinge niederließen, profitierten dagegen von deren reichen Kenntnissen und Erfahrungen. Bedeutende Fortschritte im Musikleben zeigten sich bald darauf sogar in so fernen Regionen wie Südafrika und Australien. Am meisten profitierten die USA von den deutschen Juden; seit den dreißiger Jahren blühten dort Orchester, Opernhäuser, Music Departments, Musikverlage, Musikwissenschaft und Musikkritik auf. Die heutige Führungsrolle der Musikstadt London verdankt sich ebenfalls zu einem großen Teil den vor Hitler Geflohenen, den sogenannten „Continental Britons“. Zwei von ihnen, der Komponist Berthold Goldschmidt und der Dirigent Joseph Schwarz, wurden zu Mentoren Simon Rattles. Dieser konnte deren Erfahrungen wieder ans Berliner Philharmonische Orchester weitergeben, das sich heute aus Musikern aus 25 Nationen zusammensetzt. Zu dieser Internationalität kam es allein aus Gründen der musikalischen Qualität. Hätten sich dort nur deutsche Staatsbürger um Orchesterstellen bewerben dürfen, hätten die Berliner Philharmoniker wohl kaum dieses hohe Niveau erreicht.
Béla Bartók hat 1942 in seinem Essay „Race Purity in Music“ Erfahrungen aus seinen Volkmusikforschungen zusammengefasst; demnach fand er in Gebieten mit kultureller Vielfalt, etwa in den Grenzregionen Rumäniens, Ungarns oder der Slowakei, einen größeren musikalischen Reichtum als in ethnisch einheitlichen Gebieten. Bartók hätte ebenso auch die Musikstädte Wien, Berlin, New York und London als Beleg heranziehen können. Er war kein Nationalist, sondern ein Europäer. Als solchen präsentiert ihn das neu gegründete Festival „Bartók for Europe“, das als eine gemeinsame Initiative des Concerto Budapest mit dem London Philharmonic Orchestra Ende September erstmals in München stattfand.
Orte der Einwanderung
Die vielen Flüchtlinge, die seit dem letzten Jahr vor allem aus dem arabischen Raum nach Deutschland kommen, haben in manchen Köpfen wieder die Angst vor Überfremdung geschürt. Wie nach 1918 Deutschnationale den jüdischen Einfluss bekämpften, so befürchten Pegida- und AfD-Anhänger heute eine Islamisierung des Abendlandes. Abschottung statt Willkommenskultur. Dem sollte man die vielen positiven Erfahrungen aus der Geschichte der Migration entgegenhalten. Gerade die deutsche Kultur hat sich immer wieder an fremden Vorbildern orientiert und von ihnen profitiert. Was wären die Germanen ohne die entwickelte römische Kultur, was Goethe ohne seine Italien-Sehnsucht, was die Architektur von Berlin und München ohne die Nachahmung Athens? Es ist lehrreich, sich die vielfältigen Wurzeln der eigenen Kultur bewusst zu machen. In Mannheim haben der Dramaturg Jan-Philipp Possmann und das Künstlerhaus Zeitraumexit alle dort existierenden Kulturen dazu aufgerufen, nach dem Vorbild des UNESCO-Weltkulturerbes ihren kulturellen Beitrag zu benennen. Menschen aus 160 Nationen und Kulturen leben in Mannheim. Sie alle sollen auf der Liste vertreten sein, die im Dezember in einer öffentlichen Komitee-Show vorgestellt werden soll. Andere Städte könnten diesem Beispiel folgen und sich ebenfalls als Orte der Einwanderung verstehen.