Man mag es wohl ein neues historisches Kapitel nennen können, wenn Jerusalem neue Wurzeln in Berlin schlägt. Im Foyer fließt der Prosecco, an der Wand ist auf der Ausstellungstafel zu lesen „was Sie schon immer über Juden wissen wollten.“ Die Besucher machen sich auf den Weg in den Glashof des Jüdischen Museums Berlin, um den Auftakt des Jerusalem International Chamber Music Festival mitzuerleben, das dieses Jahr zum zweiten Mal in der deutschen Hauptstadt stattfindet.
Erst vor 15 Jahren von der Pianistin Elena Bashkirova in Israel gegründet, stellt das Event dieses Jahr (20. bis 25. April) mit dem Untertitel „intonations” Werke von Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Ludwig van Beethoven denen von Gideon Klein, Viktor Ullmann und Erwin Schulhoff gegenüber, Komponisten, die in den Konzentrationslagern des zweiten Weltkriegs ermordet wurden und deren Werke – zum Teil vor Ort geschrieben – erst in den letzten zwanzig Jahren wiederentdeckt werden. Zum Eröffnungsabend des Festivals fand auch eine Uraufführung, „Colors of Dust“ für Violine, Violoncello, Flöte, Klarinette und Klavier vom israelischen Komponisten Ayal Adler, statt.
Adlers Musik reicht von atmosphärischen Farben bis impulsiv motivischer Arbeit, welche hier abwechselnd umgesetzt werden. Im einteiligen Satz von ungefähr 11 Minuten wechselt sich der Stillstand immer wieder mit frenetischen, kämpfenden Melodien ab. Das Klavier (Yaron Kohlberg) übernimmt eine fast solistische Rolle – während der Dirigent, David Coleman, das Ganze mit großer Präzision koordiniert. Kurz vor dem Höhepunkt tritt jeder Instrument hervor um sich zu beklagen – ein ächzendes Cello (Timothy Park), eine einsame Klarinette (Pascal Moraguès) – bis alle in höchster Lage schweben. Hier, mit dem Klirren eines Triangels über die glasigen Obertöne, erreicht das Werk einen dramatischen Sinn, der im Laufe des Stücks nicht immer so leicht zu begreifen ist. Schließlich reißen die Stimmen ängstlich ab, dieses Mal im Einklang. Der Titel von Adlers Stück lässt an die Nahen Osten denken, wo die Luft vom Wüstenstaub in einem historischem Kampf erfüllt ist – biblische Geschichte, moderne Sehnsucht nach Frieden. Im Programmheft wird die Klimax als eine „Vision von Naturklängen“ beschrieben, was die Möglichkeit spiritueller Erlösung natürlich nicht ausschließt. Die Emotionen bleiben aber unaufgelöst, als die Vision wieder auf Erde zurückkehren muss.
Das Programm insgesamt kreiste um Beethoven, was interessante wenn auch brennende Kontraste hervortreten ließ. Das anschließende Septett, Es-Dur op.20, eines der populärsten Werke zu Beethovens Zeit, wirkte sorgenfrei in der höfischen Pracht und Mozartischen Nostalgie, auch der vorangegangene Liederkreis „An die ferne Geliebte“ op. 98, mit dem Bass Roman Trekel als Solist, blieb in seiner eigenen Welt gefangen, mit folkloristischen Melodien und rein romantischen Beschwörungen der Natur.
Eindrucksvoller wirkte die Gegenüberstellung des Eröffnungswerk, Beethovens spielerische Variationen über Wendel Müllers Lied „Ich bin der Schneider Kakadu“, op.121a – in einer höchst intuitiven, einfühlsamen Darbietung von Festivalleiterin Bashkirova, ihrem Sohn und Sohn des Dirigenten, dem Geiger Michael Barenboim, und dem blutjungen Cellisten Andreas Brantelid – mit Gideon Kleins Streichquartett (1939/40), kurz vor seiner Deportation nach Theresienstadt fertig gestellt. Nach den schrägen, zaghaften Melodien, gespenstischen Obertönen und der chaotischen Auflösung einer Fuge, die nicht zur Verwirklichung kommen möchte, wird sich der Zuhörer schließlich der geschichtlichen Tatsachen bewusst, die das Zentrum des Stückes bilden. Barenboim leitete das Ensemble mit glänzendem, transparenten Ton.
Ein weiterer Höhepunkt war Bartoks „Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug“ (1937), sein einziges Kammermusikstück mit Schlagzeug. Das Stück beginnt mit einer schleichenden Melodie und unterdrücktem Wut im ersten Satz, kulminiert aber schließlich in den ineinander greifenden, quasi-minimalistischen Mustern des abschließenden Allegros, ein farbenreicher Einsatz der kontrastierenden Instrumente. Besonders auffallend war die Virtuosität Kohlbergs am ersten Klavier und die Präzision des Schlagzeugers Dominic Oelze. Trotz der etwas sterilen Atmosphäre des nagelneuen Museums ist es dem Festival gelungen, musikalischen Entwicklungen einen neuen Rahmen zu geben – und dabei vielleicht eine neue Sichtweise aufzuzeigen, nach welcher der Bruch zwischen Vor- und Nachkriegszeit nicht absolut sein muss.
Das Jerusalem International Chamber Music Festival läuft noch bis 25. April.