Eine Frau erhält einen Auftrag. Sie bleibt wie ihr Auftraggeber namenlos. Aus dem Dunkel, vor geschlossenem Vorhang, vernehmen wir mit ihr, dass auf sie eine Aufgabe warte, zwei elternlose Kinder solle sie erziehen, allein soll sie es tun, den anonymen Vormund nicht behelligen. Zum hellen, lyrischen Gesang des Tenors Benjamin Glaubitz, der leicht verfremdet und aus undefinierbarer Ferne eingespielt wird, erscheint in gestochenem Ebenmaß der Auftrag als Schrift an der Wand. Die Frau nimmt an, begibt sich auf die Reise zu jenen Kindern, die sie nie erreichen wird.
Für die folgenden 16 knappen Szenen der Oper „The Turn oft the Screw“, was so viel heißt wie „Die Drehung der Schraube“, hat Lea Maud-Charlotte Klein von der Dresdner Hochschule für Bildende Künste einen tiefen Schacht aus braunem Holz auf die Bühne des Kleinen Hauses gebaut. Bald sehen wir, dass es viele Türen gibt, was dahinter ist erfahren wir nie, nicht woher die Menschen kommen, nicht wohin sie gehen. Alles, wovon die Rede ist, der Garten, ein See, andere Räume, bleibt Imagination. Eine Treppe mit unregelmäßigen Stufen führt an den Wänden entlang und endet lange bevor sie die Höhe erreicht. Dieser Raum mit den Türen, die zu keinem Ausweg führen, reicht als Bild für die Angst die das Spiel der Menschen bestimmt in Benjamin Brittens Oper, die er nach einer Novelle von Henry James schuf.
Andreas Baumann konzentriert sich in seiner klar gestalteten Inszenierung stark auf die Figur der Erzieherin, die im Gegensatz zu allen anderen handelnden Personen, tote eingeschlossen, namenlos bleibt und lediglich durch ihre Berufsbezeichnung definiert wird. In Baumanns Sicht bleibt offen, ob eben jene Fremde aufdeckt, was in der Vergangenheit geschah. Ob die verstorbene Vorgängerin in kriminellem Pakt mit dem verstorbenen Diener die Kinder missbraucht haben und daher als Geister sich in deren Seelen eingenistet haben, oder ob all das den Angstphantasien einer einsamen pflichtkranken Außenseiterin entspringt der die Kinder als Objekte ihrer Anerkennungsbegierden den Zugang zu ihren Welten verwehren.
Somit blendet Baumann die sexuellen Konnotationen des Werkes zwar nicht aus, aber er stellt sie weniger aus als man das in gegenwärtigen Kontexten vielleicht erwartet haben könnte. Zudem sind die Rollen der Kinder nicht mit einem Mädchen- und einem Knabensopran besetzt sondern die Studentinnen Teresa Suschke und Karolin Trübenbach singen die Partien der Geschwister Flora und Miles. Mit ihnen agiert und singt ein höchst engagiertes Ensemble der Dresdner Hochschule für Musik, das sich den musikalischen Herausforderungen der ungewöhnlichen Partitur mit hohem Einfühlungsvermögen stellt und im Gesamteindruck den Abgründen dieser psychologischen Schauergeschichte sehr nahe kommt. Min Seok Kim singt jenen untoten Verführer mit so lockenden wie changierenden Tenortönen, Nari Park gibt die erstarrte Miss Jessel aus dem diesseitigen Jenseits. Amelie von Grundherr ist die überforderte Haushälterin und Eunhye Lim im roten, hoch geschlossenen Kleid gibt dem Wahn der Gouvernante immer wieder berührende Töne aus Sehnsucht nach Nähe, Aufbegehren und Verzweiflung. Am Ende, den sterbenden Knaben im Arm, der den Namen des toten Dieners schreit aber sie als den Teufel erkennt, eine einsame Erlkönigin im finsteren Turm ihrer Angst. Dazu verlöschende Akkorde, deren Klänge in die Stille führen.
Überhaupt der Klang dieses Werkes. Sie solle den Worten keine Farbe geben, so Britten zur Librettistin Myfanwy Piper, das mache die Musik. Und diese Musik ist farbig und fahl zugleich. Sie lässt die Blumen des Bösen sinnlich, verführerisch erblühen, sie umspielt die Geheimnisse der Menschen, assoziiert in hellem Aufstrahlen, in tänzerischer Geste sogar, die tiefe Sehnsucht nach Leben im Schatten des Todes.
So wie die jungen Sängerinnen und Sänger sich der ungewöhnlichen Aufgabe stellen, so lassen die 13 Mitglieder des Hochschulsinfonieorchesters unter der Leitung von Franz Brochhagen Brittens vornehmlich tonalen Klangfantasien für Harfe, Holz- und Blechblasinstrumente, Celesta, Glocken, Schlagwerk, Streichquintett und Klavier, erblühen, die dem Unaussprechlichen des Stückes näher kommen als die Sprache es vermag.
Es mag für alle Beteiligten dieser mit sehr herzlichem Applaus aufgenommenen Hochschulproduktion eine wesentliche Erfahrung sein zu erkennen, welche Weite der Assoziationen möglich ist bei verhältnismäßig hoher Beschränkung der Mittel und einer klugen Anleitung der Verantwortlichen in musikalischer und szenischer Hinsicht, die zum einen studentische Möglichkeiten zu akzeptieren bereit sind zum anderen ermutigen, diese aber auch zu erkunden. Nun so erklärt sich wohl, dass man nach dieser düsteren Reise in die Gefilde der Angst und Einsamkeit das Theater seltsamerweise in beglückter Stimmung verlässt.
Weitere Vorstellungen im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden:
Sa 15.05.10, Sa 22.05.10, Do 27.05.10, Mi 02.06.10, Do 10.06.10 und Fr 17.06.10, jeweils 19:30 Uhr sowie So 06.06.10/16:00 Uhr