Wo anfangen? In Wuppertal, von dort kommt die jüngste Hiobsbotschaft: Die Stadt steht mit 1,8 Milliarden Euro in der Kreide. Wenn sie so weitermacht, ist sie 2011 überschuldet, und so haben der Oberbürgermeister und der Kämmerer ein Haushaltssicherungskonzept erarbeitet, das bis 2014 Einsparungen von 80 Millionen Euro jährlich vorsieht: Gebühren und Eintrittspreise werden erhöht, Wohnungen verkauft, Bäder geschlossen, Stellen abgebaut, freiwillige Aufgaben gekürzt. Auch die Kultur ist betroffen: Der Zuschuss für die Bühnen (Oper und Schauspiel) soll bis 2012 von 10,9 auf 8,9 Millionen Euro gesenkt, das denkmalgeschützte Schauspielhaus, dessen Renovierung für 6,5 Millionen Euro bereits beschlossen war, „aufgegeben“ werden.
Wenn das Pina Bausch noch erlebt hätte! Hätte sie nicht, sagen alle in Wuppertal, zu ihren Lebzeiten hätte die Stadtspitze sich das nicht getraut. Auch ist das Tanztheater ausdrücklich ausgenommen und nur insofern betroffen, als es das Schauspielhaus nicht mehr – wie bisher alternierend mit dem Opernhaus – bespielen kann. Zwei Millionen Euro weniger, das sind nicht mal 0,12 Prozent des Schuldenbergs. Für die Bühnen aber ist es vernichtend, denn 8,9 Millionen Euro bedeuten, da sind sich die Intendanten Johannes Weigand (Oper) und Christian von Treskow (Schauspiel) einig, „das Ende des Ensemble- und Repertoiretheaters“. Beide Sparten sind schon jetzt, mit jeweils dreizehn Solisten, denkbar klein. Andererseits muss die Kommune bei den „freiwilligen Aufgaben“, und dazu gehört die Kultur, ansetzen, zumal sich die Haushaltssituation weiter zuspitzt: Die Sozialausgaben steigen, der Soli drückt, die Gewerbesteuereinnahmen sinken – und die Einwohnerzahl auch. Seit der Eröffnung des Schauspielhauses 1966 ist sie von 422.000 auf 348.000 zurückgegangen.
25 Kilometer weiter westlich, in Düsseldorf, wurde das Opernhaus gerade für 30 Millionen Euro saniert. Die Deutsche Oper am Rhein, ein Zwei-Städte-Institut mit Duisburg, beschäftigt 60 Solisten. Die Landeshauptstadt ist, als eine von nur ganz wenigen Großstädten in Deutschland, schuldenfrei, investiert in Kultur wie auch in Kindergärten und gewinnt Einwohner hinzu. Und 60 Kilometer weiter südlich, in Bonn, soll ein neues Beethoven-Festspielhaus errichtet werden. Doch nicht die Kommune, die in Sichtweite ihr Opernhaus vergammeln lässt, sondern die Dax-Unternehmen Deutsche Post, Telekom und Postbank wollen den Bau finanzieren. Die Stadt ist bereit, dafür die denkmalgeschützte (und funktionstüchtige) Beethovenhalle abzureißen, und der Bund hat – wieso eigentlich? – 31 Millionen Euro für eine Stiftung zugesagt, aus deren Ertrag der Betrieb bestritten werden soll. Köln, dessen Philharmonie nur 25 Kilometer entfernt liegt, will da nicht zurückstehen und plant, das Opernhaus zu sanieren und das Schauspielhaus daneben durch einen 300 Millionen Euro teuren Neubau zu ersetzen.
Fast täglich gibt es neue Hiobsbotschaften, es brennt an allen Ecken und Enden, die Finanzkrise schlägt durch auf die Kultur. Doch so verheerend, dass deshalb alle großen und oft fragwürdigen Projekte storniert oder auch nur aufgeschoben würden, ist die Lage (noch?) nicht. Dennoch kann es sein, dass Wuppertal das Fanal für einen Flächenbrand gibt.
Gleich nebenan, 20 Kilometer weiter östlich, in Hagen, ist die Situation ähnlich bedrohlich: Während die Stadt den Zuschuss für das Theater, den sie erst 2007 erheblich gekürzt hat, ab 2014 „nur“ um weitere 800.000 Euro verringern möchte, favorisiert die Bezirksregierung in Arnsberg, dass es zum Gastspielbetrieb abgewrackt wird und Orchester, Opern- und Tanzensemble aufgelöst werden. Die Kommune drückt ein strukturelles Defizit von 130 Millionen Euro, allein für Zinsen bringt sie jährlich 40 Millionen Euro auf. Und auch in Essen, 25 Kilometer weiter nördlich, muss die „Theater und Philharmonie“ GmbH, die Oper, Ballett, Schauspiel, Orchester und Konzerthaus unter ihrem Dach hat, den Zuschussbedarf von 2006 bis 2011 um 5 auf 41,6 Millionen Euro herunterfahren und die Tariferhöhungen selbst auffangen. Dabei wird das ruhmreiche Aalto-Musiktheater weitgehend verschont, indem Philharmonie und Schauspiel stärker belastet werden, dessen künftiger Intendant denn auch schon nicht mehr nach künstlerischen Kriterien, sondern gleich als Sparkommissar ausgesucht wurde. Während die Kulturhauptstadt 2010 ihre Events abbrennt, sind die festen Theater schon „abgebrannt“.
Selbst Stuttgart im wohlhabenden Süden der Republik hat der Kultur eine zehnprozentige Kürzung verordnet. Am schwersten haben es mittlere Großstädte in Ballungsräumen: Groß und traditionsreich genug, ein eigenes Theater zu unterhalten, doch nicht mehr groß und finanzkräftig genug, dass sich dieses, bei kleinem Einzugsgebiet, in der Städtekonkurrenz behaupten kann. So gelten Hagen, Mönchengladbach und Oberhausen als nächste Todeskandidaten.
Die prekäre Lage allein mit den Finanzen zu erklären, ist zu einfach. Die Frage muss erlaubt sein, welchen Anteil die Theater selbst an der Misere haben. Mangelnder Realitätsbezug ist keinem von ihnen vorzuhalten, auch leiden nur wenige an rückläufigen Besucherzahlen. Was sich dagegen entscheidend verändert hat, ist ihre Akzeptanz in den Stadtparlamenten. Das Gros der Politiker sieht sie nicht mehr als zentrale Einrichtungen, gar als Mitte und Stolz des Gemeinwesens an, sondern nimmt sie vor allem als Kostenfaktoren wahr, mit denen sich zuvörderst die Frage verbindet, wie sie noch effizienter arbeiten können. Was der Dortmunder Kulturdezernent Jörg Stüdemann im April auf einer Diskussion in Oberhausen sagte, gilt auch für andere Städte: „Bei mir im Rat interessiert sich kaum einer für Theater.“
Wie lässt sich die Krise überstehen oder gar überwinden? Noch eine Sparrunde, noch eine Produktion weniger, wieder zwei Sänger oder Schauspieler entlassen geht vielerorts schon nicht mehr und würde das Problem nur verschieben. Ende der Fahnenstange. Eine Patentlösung, das zeigen die Beispiele, gibt es nicht, die Nöte sind unterschiedlich groß und gelagert, und dass Kultur-, Bildungs- und Sozialausgaben gegeneinander ausgespielt werden, verbietet sich. „Nothilfefonds des Bundes“? Klingt gut, doch wie soll es funktionieren? Werden Kommunen wie Köln oder Wuppertal dann mit „Hilfen“ dafür belohnt, dass sie die Not besonders groß werden und ihre Theater verwahrlosen ließen, während andere wie Bochum oder Gelsenkirchen, die sie tiptop in Schuss halten, leer ausgehen und sich bestraft fühlen müssen? Auch wenn es wenig realistisch scheint: Viele Kommunen stehen vor dem Bankrott, und so ist es überlebenswichtig, dass die Steuermittel anders verteilt, und sie wieder in die Lage versetzt werden, die kommunale (und damit auch kulturelle) Infrastruktur aufrechtzuerhalten und aktiv zu gestalten. Sollte die schwarz-gelbe Bundesregierung die Kosten ihrer „großen“ Steuerreform auf die Gemeinden abwälzen, kann sie ein Theatersterben auslösen. Die Kultur der föderalen Bundesrepublik ist eine Kultur der Städte, der nicht zuletzt der Wettbewerb um die besten Köpfe, Künstler und auch Konditionen Vielfalt und Qualität sichert.
Zurück nach Wuppertal. Mitte des Jahres wurde dort mit dem Umbau des Döppersbergs begonnen, der der Stadt vor dem Hauptbahnhof ein neues Entrée geben soll. Es ist schwer, in Wuppertal jemanden zu finden, der dem 236 Millionen Euro teuren Vorhaben positiv gegenübersteht. Wäre das viele Geld oder ein Teil davon nicht besser in die Kultur investiert? „Aber wieso?“, heißt es dann schnell, „das ist doch ein ganz anderer Topf, da kriegen wir achtzig Prozent Landesmittel.“ Dass wir uns nicht mehr alles leisten können, macht die Finanzkrise (noch einmal) bewusst. Um so gründlicher muss sich eine Bürgergesellschaft darüber verständigen, was ihr wichtig und, vor die Wahl gestellt, wichtiger ist.