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Kultureller Botschafter Brasiliens: der Dirigent Yan Pascal Tortelier. Fotos: Stefan Pieper
Kultureller Botschafter Brasiliens: der Dirigent Yan Pascal Tortelier. Fotos: Stefan Pieper
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Ungeahnte Farben aus der neuen Welt

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São Paulos Sinfonieorchester will auf seiner Europatournee kultureller Botschafter sein
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Ein Bahnhofsvorplatz in São Paulo, Ende Oktober. Bäume blühen in tropischer Pracht. Obdachlose schieben Einkaufswagen unter der gleißenden Frühlings-Sonne. Städtische Bedienstete fluten mit Hochdruckreinigern das Trottoir – in vielen Schwellenländern ein symbolbehaftetes Ritual! Inmitten einer etwas trostlosen Häuser-Landschaft erhebt sich wie ein dekadentes Kleinod der neoklassizistische Prunkbau der ehemaligen Estacão Julìo Prestes.

Aber die Züge der Sorocabana-Bahn fahren von hier längst nicht mehr in die Weiten des Kontinents. Die ehemalige riesige Bahnstation heißt heute Sala São Paulo, seit hier das Orchestra Sinfonica do Estado de São Paulo (OSESP) residiert. Die klassische Musik-Kultur in Lateinamerikas aufstrebender Wirtschaftsnation scheint damit zur Chefsache erhoben. Und auf seiner aktuellen Europatournee wollen die Sinfoniker aus Brasilien als kulturelle Botschafter agieren.

Wir saugen noch etwas die Tropenwärme ein, betreten dann die mondäne Welt aus kühlem Marmor, korinthischen Säulen und ganz viel Holz in diesem seit 1999 für feinste Konzertereignisse hochmodern funktionalisierten Architekturdenkmal. Soeben laufen die letzten Proben für die große Europa-Tournee. Schostakowitschs herbe Tonsprache lädt den Saal mit Energie auf. Cellist Antonio Meneses verleiht zusammen mit seinen Landsleuten dem Cellokonzert Nr. 1 den letzten Schliff. Der in Recife geborene und heute in der Schweiz lebende Cellist Meneses kennt Brasiliens Vorzeigeorchester seit den frühesten Anfängen – und dies ist anno 2010 nicht mehr das Orchester von einst. John Neschling hat die Sinfoniker über zwölf Jahre lang zu internationaler Größe geführt. Seit 2008 liegt dieses gewichtige Erbe in den Händen von Yan Pascal Tortelier, der nach Neschlings überhaupt nicht freiwilligem Weggang die Interims-Leitung übernommen hat. Meneses spielt gerade zum ersten Mal mit dem Orchester unter der neuen Leitung, freut sich vor allem über die entspannte Atmosphäre. 

Besuch im Büro des Programmchefs des Orchesters, Arthur Nestrovski. Dieser zeigt sich als „Macher“ in Sachen entstaubter Imagepflege für das Musikleben von morgen. Als Gitarrist und Songwriter weiß Nestrovski nur zu gut, dass angesichts der weltweiten Ausstrahlung brasilianischer Popularmusik auch die Klassik „made in Brazil“ alles andere als hermetische Elfenbeintürme braucht, um sich Gehör zu schaffen. Entsprechend soll das OSESP möglichst viele Milieus und Schichten innerhalb São Paulos urbaner Gegensätzlichkeit erreichen. Ein Education-Programm bietet Weiterbildungen für Musiker, Studierende und Lehrer an. Allsonntägliche Gratis-Konzerte haben bislang ein Millionenpublikum erreicht. Am nächsten Tag ist der Konzertsaal mit etlichen hundert Schülerinnen und Schülern voll besetzt.  Dazu gibt es ein flott bebildertes, unterhaltsam wie lehrreiches Infoheft über das Programm, die Komponisten, den Dirigenten, die Instrumente und auch über das übliche Verhalten in Sinfoniekonzerten.

Der Konzertbetrieb selbst ist von umfangreichen Begleitveranstaltungen flankiert. Darauf legt Nestrovski großen Wert. „Wir haben ja nicht nur den sinfonischen Klangkörper, sondern auch einen Chor. Außerdem formieren sich einzelne Mitglieder zu Kammerensembles, die in direktem Bezug zu den sinfonischen Programmpunkten musizieren. Und natürlich stellen sich die Künstler in Einführungsgesprächen ihrem Publikum.“

Unter dem Motto „Tortelier meets Audience“ unterbreitet der Maestro aus Frankreich dem einheimischen Publikum die Intention der anstehenden Europatournee. Der Sohn des legendären Cellisten Paul Tortelier sprüht vor Sendungsbewusstsein: „Es geht darum, der Welt zu zeigen, was an diesem Orchester besonders ist, und dieses Orchester ist besonders! Genau wie Brasilien besonders ist!“ So begeistert Tortelier vom „unglaublichen“ Potenzial der Musiker ist, so hält er zugleich eine Weiterentwicklung für überfällig. Der rigide, ja, wohl latent despotische Führungsstil seines Vorgängers ist für ihn eine überkommene „Kapellmeister“-Attitude. In einem langen, phasenweise sehr persönlichen Interview-Gespräch erläutert Tortelier seine Philosophie. Diese sieht den Dirigenten nicht als Über-Vater, sondern hat dafür umso mehr das organische Ganze aus Komponisten-Genius, Dirigent und ganz viel schöpferischer Eigenverantwortung jedes einzelnen Orchestermitglieds im Blick.

Die praktische Umsetzung solcher Tugenden sorgt nach langjährigem Eingeschworensein auf den Neschling-Stil im aktuellen Orchesteralltag zuweilen noch für Irritation. Und der Produktionsdruck in Bezug auf die Konzerttournee ist immens angesichts von 14 aufzuführenden Kompositionen von Rachmaninoff und Tschaikowski bis zu Ravel, Villa-Lobos und Lutoslawski. Die Abstimmung mit den einzelnen Konzerthäusern verlangt es, mit den Programmen so stark zu variieren. Lateinamerikas sinfonischer Export misst sich zurzeit an großen Werken, und das mitten in Europas Hochburgen klassischer Musikkultur. Im Gegenzug trägt das OSESP weitgehend unbekannte musikalische Farben in die Konzertsäle der „alten Welt“. Das ganze Schaffen von Heitor Villa-Lobos sowie Komponisten wie Gomez oder Camargo Guarnieri sind im hiesigen Konzertbetrieb bislang noch terra incognita. Bei der Interpretation solchen Repertoires hat São Paulos Orchester schon vielfach Referenzcharakter bewiesen. Dies dokumentieren zahlreiche CD-Aufnahmen des schwedischen BIS-Labels.

Konzertpremiere im Sala São Paulo: Stilvoll gekleidetes Publikum macht nun das edle Ambiente komplett. Der erste Abend leidet unter typischen Generalproben-Patzern, denn eine „echte“ Generalprobe konnte es aus Zeitgründen nicht geben. Zum Glück greift aber psychologische Orchestermusiker-Weisheit, dass nach einer problematischen „Generalprobe“ das Sich-Freispielen umso flüssiger läuft. Vor allem der fetzige Schostakowitsch-Schlusssatz inspiriert einige im Publikum zu jenen spitzen Jauchzern, die hierzulande eher auf Jazzkonzerten anzutreffen sind. Brasiliens Konzertpublikum ist emotional und direkt. Wärme ist eben im Spiel in diesem Land, wo man auch beim Hinaustreten ins Freie immer von Wärme überflutet wird.
Pausengespräch mit dem Sitznachbarn: Moisés Silva Inacio ist selbst auch Musiker. Die Aufführungen des OSESP imponieren den jungen Tuba-Spieler sehr und sind Vorbild fürs eigene Wirken in einem weiteren höchst bemerkenswerten Klangkörper, der seit 1996 in Brasiliens Kulturmetropole entstanden ist. Die „Sinfonica Heliopolis“ wurde 1996 unter der Leitung des Dirigenten Sílvio Baccarelli in einer der größten Favelas der Stadt gegründet und hat vielen Menschen am Rande der Armut zu einem neuen Lebenssinn verholfen.

Drei Wochen später und runde 10.000 Kilometer von der Sala São Paulo entfernt in der Kölner Philharmonie: Viel mehr Reife ist jetzt im tönenden Gefüge vorhanden. So klingt ein Orchester, das bereits auf etliche bestandene Feuerproben in Wien, Salzburg, Innsbruck und Warschau souverän zurückblicken kann. Offen hörbar sind Optimierungspotenziale ausgeschöpft worden.

Heitor Villa-Lobos wollte einst mit der Kompositionen seiner Choros dem europäischen Publikum die exotische Faszination seines Heimatlandes farbenprächtig vermitteln. In Köln verbreitet diese Musik sehr zuverlässig und mit maximaler Charakterfülle jenes „Flavour“ im Sinne von Torteliers Darstellungsabsicht. Ravels „La Valse“ verbreitet in Köln ähnlich rauschhafte Wirkungen, vor allem dank einer jetzt perfekt ausbalancierten rhythmischen Agogik. Ein solcher Programmpunkt schließt treffsicher den Kreis dieser Begegnung eines französischen Dirigenten mit einem brasilianischen Orchester. Der Dirigent Tortelier kontrolliert nicht so sehr, er scheint umso mehr auf emotionales Anfeuern Wert zu legen. Kein Zufall, dass „auswendig dirigieren“ auf englisch „conducting from the heart“ heißt.

Als Zugabe vereint das Orchester geschmeidig, was in der einmaligen kulturellen Landschaft Brasiliens zusammengehört – also „ernste“ mit populärer Musik! Zur Band, die wie ein Wirbelwind aufspielen kann, wird das Orches-ter in Edu Lobos karnevalesk-tänzerischem „Frevo Ventania“. Das Kölner Publikum reagiert deutlich reservierter als die brasilianische Zuhörerschaft in São Paulo, die es bei dieser Nummer geschlossen von den Stühlen riss. Aber auch der Karneval ist ja in Brasilien noch etwas turbulenter als in Köln… 

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