Bei der Uraufführung von Mahlers Zweiter durch die Berliner Philharmoniker im Jahre 1895 sollen sich die Besucher am Ende weinend gegenseitig in die Arme gefallen sein. Ähnlich emotionale Szenen gab es 117 Jahre später in der restlos ausverkauften Berliner Philharmonie, als Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin die Emotionen, insbesondere im Schlusssatz von Mahlers Sinfonie Nr. 2 in c-Moll, hochpeitschte.
Dramaturgisch klug schien die Ankündigung als „Wiener Romantik“, durch den Bogenschlag zu dem mit Gustav Mahler gleichaltrigen Hugo Wolf, der gemeinsam mit ihm am Wiener Konservatorium studiert und sich sogar ein Zimmer geteilt hatte – bis hin zum tragischen Ende, als Freunde Wolf unter dem Vorwand in die Nervenheilanstalt einlieferten, die Fahrt ginge zum Obersthofmeister Liechtenstein, bei dem Wolf seine Aufwartung als neuer Hofoperndirektor, in der Nachfolge Gustav Mahlers, machen solle. Hugo Wolfs Oper „Manuel Venegas“ war dabei in seiner Wohnung als Fragment zurück geblieben.
Der wahrlich in allen Farben der Natur aufblühende Frühlingschor, mit dem das Opernfragment „Manuel Venegas“ beginnt, stand am Anfang des Konzerts: den erfrischenden Gesang des Rundfunkchors umrankten die Philharmoniker mit Ornamentik und orgelartigen Tutti. Glücklicherweise erklang diese Szene – entgegen dem Textabdruck im Programmheft – ungekürzt. Im Elfenlied aus dem „Sommernachtstraum“, dessen Partitur auch szenische Angaben enthält, interpretierte die lyrische Sopranistin Camilla Tilling, leider mit mangelnder Textverständlichkeit. Als Visionär einer neuen Musik, die ihn auch als Musikdramatiker in seinen Fragment oder Projekt gebliebenen Opern „Penthesilea“ und „Prinz von Homburg“ bestimmen sollte, zeigt sich Wolf in seiner eigenen Fassung des „Feuerreiter“ für gemischten Chor. Hier emotionalisiert der nach Neuland züngelnde, zum Himmel leckende Flächenbrand im Orchester die hinreißend klaren Vokalstimmen des Rundfunkchores mit deutlicher Diktion. Mit dem „Feuerreiter“ ging der nur 15 Minuten dauernde, all zu kurze Teil zu Ende geht – obgleich Wolf noch eine Reihe weiterer Kompositionen für gemischten Chor und Orchester geschaffen hat, die gut in diese Programmzusammenstellung gepasst hätten.
Nach der Pause interpretiert Sir Simon Rattle Mahlers „Auferstehungssymphonie“ mit ihren multiplen Verweisen zur Kulturgeschichte, beginnend mit einer dem Beginn des zweiten Aufzugs des „Götterdämmerung“ nachempfundenen, nächtlichen Stimmung. Der 1. Satz war ursprünglich die symphonische Dichtung „Todtenfeier“, Bezug nehmend auf Adam Mickiewitz’ gleichnamiges Epos aus seinem vierteiligen Dramenzyklus. Vor dem zweiten Satz, der auch heitere Schlaglichter auf den im Trauermarsch des Eröffnungssatzes zu Grabe getragenen Protagonisten wirft, verlangt Mahler „eine Pause von mindestens 5 Minuten“, aber Rattle fuhr nach kaum einer Minute fort. Mehr als marginal brechen die Schläge der Ruthe peinigend in das Leben ein. Nahtlos folgt der dritte Satz; trotz des entschlusskräftigen Aufschwung-Themas, das auch Wagner in seinem Großen Festmarsch aus Glucks „Iphigenia in Aulis“ herangezogen hat, zeigt Mahler mit dem Selbstzitat des Wunderhorn-Liedes, „Des Antonius zu Padua Fischpredigt“ das menschliche Bemühen als ein Bild der Vergeblichkeit.
Wie von Mahler vorgeschrieben, attacca, schließt sich der vierte Satz an. Bei den Fernorchester-Momenten erweist sich die große Besetzung der Instrumentenstellen bei den Berliner Philharmonikern als Glücksfall, so dass die Fagottisten, Hornisten und Trompeter nicht zwischen Saal und Draußen wechseln müssen. Durch die im Foyer des oberen Ranges positionierten Kollegen stellt sich eine gesteigerte Theatralik Mahlers ein, der ja selbst – außer dem Pasticcio zu Webers Fragment „Die drei Pintos – keine Oper komponiert hat, aber auch in den Programmen seiner Symphonien jenes „unsichtbare Theater“ anpeilt, das Richard Wagner am Ende seines Lebens als nächster Schritt vorschwebte. Genussvoll tönt im „Urlicht“ des 4. Satzes der warme, textverständliche Alt von Bernarda Fink, der sich im 5. Satz, mit dem von Mahler um vier eigene Strophen á la Goethe erweiterten zwei Klopstockversen, aufs beste mischt mit dem auswendig brillierenden, von Simon Halsey einstudierten Rundfunkchor. Das unisono Mitsingen des Solosoprans beim Anfangschor hat der Dirigent glücklicherweise gestrichen.
Einhelliger, enthusiastischer Jubel, wie man ihn bei Symphoniekonzerten in der Philharmonie selten so euphorisch erlebt.