Seit der Premiere von Umberto Giordanos „André Chénier“ am 20. Juli 2011 hatten die Bregenzer Festspiele zunächst über eine Woche lang Glück mit dem Wetter. Wie stets seit dem Bau des Festspielhauses war für den Schlechtwetterfall eine eigene Version für Innen erarbeitet worden, die in diesem Jahr vorerst noch nicht als Alternative gezeigt werden musste.
Am 5. August jedoch wurden die Zuschauer verspätet auf die Tribüne der Seebühne gelassen, nachdem sich offenbar einige Wetterfrösche widersprochen hatten. Eine weibliche Stimme versprach dann, es werde trotz einiger angekündigter Schauer, die Aufführung auf der Seebühne stattfinden, die Festspielleitung empfehle dem Publikum jedoch, sich noch Regencapes anzuschaffen.
Die Handlung der Verismo-Oper führt in das Frankreich des Jahres 1789. Der vom Revolutionstribunal wegen Hochverrats verurteilte, im Herzen selbst revolutionäre Dichter Chénier und seine adelige Geliebte Maddalena, die sich anstelle einer jungen Mutter hinrichten lässt, sterben gemeinsam unter dem Fallbeil.
Das von Keith Warner als fulminante, vielgliedrige Show inszenierte Opernspektakel begann mit dem Haushofmeister als personifiziertem Tod, mit Steilwandtänzern auf dem zunächst noch abgedeckten, übergroßen androgynen Kopf, der offensichtlich Marat in der klassischen Napoléon-Verfilmung nachempfunden ist. Stunts in Abendrobe des ancien régime (Kostüme: Constance Hoffmann) stürzten sich mit mehrfachem Salto ins Wasser. Kaum hatte ein schwebendes Pas de deux im 19 Meter hohen Messing-Spiegelrahmen, dessen drei Meter hohe, später herabbrennende Kerzen die Liebe des Dichters Chénier zur adeligen Maddalena symbolisieren – stattgefunden und eben seilten sich bemannte Tränen aus den gespenstisch leuchtenden Augen des Überkopfes ab, während das Volk in luftiger Höhe szenisch und musikalisch seine revolutionären Ausschweifungen begann, da wurde die Vorstellung unterbrochen. Die Ansagerin vermeldete nunmehr, aufgrund eines angekündigten Unwetters werde die Vorstellung nach einer Viertelstunde im Großen Festspielhaus fortgesetzt. Der Gegensatz konnte kaum größer sein.
Auf der Seebühne fasziniert den Besucher das spezifische BOA (Bregenz Open Acoustics) System, das den Klang in Hollywood-Manier gigantisch aufpusht und derartig stereofon wiedergibt, dass der einzelne Sänger räumlich zu orten ist. In diesem Jahre wurde dabei erstmals auch musikalisch der Sprung ins 21. Jahrhundert gewagt, indem der 1936 in London geborene David Blake zusätzliche Musik für die Übergänge zwischen den vier Akten der Oper Giordanos komponiert hat. Von den im trockenen Festspielhaus sitzenden Wiener Symphonikern live begleitet, erklingt nach dem ersten Akt eine wilde Collage aus Marseillaise, „Ah! Ca ira!“ und „Le Voyage des Bonnet rouge“. Die Polyrhythmik und Polytonalität der vom Chor gleichzeitig intonierten Gesänge steht in bewusst scharfer Diskrepanz zur vorangegangenen, romantischen Welt des Salons. Und wenn die Aufführung mit einem solchen, komponierten Chaos vor Einsatz der Einleitung zum zweiten Akt abbricht, scheint ein gesteigerter Moment der Verstörung – auch beim Publikum – erreicht.
Im Festspielhaus wirkt das draußen satt klingende Orchester in den Streichern spärlich, in den Bläsern geradezu kammermusikalisch. Die Stimmen der Solisten sind draußen in den Gesamtklang eingelagert, liegen aber mit hoher Textverständlichkeit leicht darüber, ohne „künstlich“, also „verstärkt“ zu wirken. Innen singen sie ohne Mikroports – und auch hier liegen die tragfähigen Stimmen deutlich über dem Orchester.
Der Bregenzer Festspielchor, verstärkt durch den Prager Philharmonischen Chor, wirkt auf der Bühne des Festspielhauses, ohne die zuvor erlebten Massen an Statisterie, Tänzern und Artisten, klein, wenn auch akustisch stimmstark.
Auf Seebühnenattraktionen, wie auf den 60 Tonnen schweren Kopf mit ausfahrenden Stacheln einer Dornenkrone und dem darin sichtbar werdenden Gehirn in Form einer gigantischen Bibliothek, muss der Besucher im Inneren des Festspielhauses selbstredend verzichten. Hier ist eine hohe Treppe die einzige Dekoration des Bühnenbildners David Fielding. Verzichtet wird auch auf das sich blätternde Buch als Gefängnis für Chénier und auf einen von 40 Darstellern der aristokratischen Gesellschaft begangenen Brief auf der Wasseroberfläche des Sees.
Das politische Auf und Ab im Inneren erinnert an Domstufenfestspiele, ist aber in der Vereinfachung der Optik durchaus zwingend. Manche der aus der Polykinesie der Regie Keith Warners herausgelösten und auf die Festspielhausbühne übertragenen Aktionen erhalten einunbotmäßiges Übergewicht, etwa die wiederholten sexuellen Übergriffe auf eine junge Gefangene an der Rampe. Die Brake Dancer vermögen ihre – wie im Film immer wieder angehalteten – animalischen Bewegungsabläufe auch auf den steilen Treppenstufen umzusetzen.
Verzichten müssen die Besucher der Version hinter Mauern auf Blakes zweite Einlegekomposition, ein elegisches französisches Lied auf originale Texte des Dichters André Chénier, denn diese Zugabe ist vorproduziert und wird nur draußen zugespielt. Anstelle der finalen Videoprojektion des Todes und der Guillotine auf einem Wasservorhang als Spiegelfläche, erfolgt diese Projektion auf der Bühne des Festspielhauses verkleinert auf der rückwärtigen Operafolie, auf der zuvor diverse Schattenrisse, korrelierend zum gesungenen Wort, projiziert worden waren.
Die eigenwillige Koppelung von Figuren der Handlung, etwa die der Gräfin di Coigny und der alten Madelon durch die Mezzosopranistin Rosalind Plowright, oder die von Richard Angas als Haushofmeister, öffentlicher Ankläger Tounville und gleichzeitig als Tod, funktionieren auch in der reduzierten Optik.
Die ausgezeichneten Sängerleistungen treten im Haus um so deutlicher hervor: die großartige, jugendlich-dramatische Ángeles Blanca Gulin als Maddalena di Coigny und Kristy Swann als aufopferungsbereite Mulattin Bersi. Spitzenleistungen auch bei den Herren: der farbige Bariton Lester Lynch als ein in seinen Emotionen nachvollziehbar wetterwendischer, dabei stets belcantistisch nahe gehender Carlo Gérard und der strahlende Tenor des Amerikaners Roy Cornelius Smith in der Titelpartie.
So waren jene Besucher, die ihre Karten nicht zurückgegeben oder für eine spätere Aufführung umgetauscht hatten, durchaus gut beraten. Obgleich im vergleichsweise schwach besetzten Festspielhaus keine rechte Stimmung aufkommen wollte, gab es am Ende der von Ulf Schirmer in allen Höhen und Tiefen ausgeloteten Partitur des mitreißend interpretierten Verismo-Schmachtfetzens heftigen Beifall und Bravorufe.
Weitere Aufführungen: 9., 11., 12., 13., 14., 17., 18., 19., 20. und 21. August 2011.