In seinem jüngsten, an Ausmaß und Erfordernissen gigantischen Konzertprogramm der Neuen Philharmonie Westfalen hat der Dirigent Heiko Mathias Förster Gustav Mahlers 7. Symphonie das Violinkonzert von Erich J. Wolff vorangestellt. Die rund vierzigminütige Komposition Wolffs erweist sich dabei als ein ephemäres Opus. Die extremen Schwierigkeiten dieser Komposition meistert die junge Geigerin Sophia Jaffé nicht nur mit hoher Virtuosität, sondern sie interpretiert den Solopart mit solcher Leidenschaft und Innigkeit, dass die lange vergessene Komposition des verfemten Komponisten im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen stürmisch gefeiert wurde.
Dass Wolffs Opus 20 von der nachfolgenden Symphonie nicht totgeschlagen, sondern als ein zeitnahes Seitenstück ergänzt wurde, zeugt gleichermaßen von der großartigen Leistung der Interpreten, wie von der Qualität der Komposition Wolffs.
Lange Zeit war der 1874 in Wien geborene, später in Berlin lebende Komponist und Liedbegleiter Erich J[aques] Wolff in keinem Musiklexikon zu finden und mit keinem Opus auf Tonträgern vertreten, obgleich berühmte Sänger seiner Epoche seine Lieder häufig interpretiert hatten. Der enge Freund von Alexander Zemlinsky und Arnold Schönberg war im März 1904 Gründungsmitglied der “Vereinigung Schaffender Tonkünstler”, die im Januar des folgenden Jahres die Uraufführung der symphonischen Dichtung “Pelleas und Melisande” ihres Präsidenten Schönberg realisierte. Von Brahms gelobt und von Alma Schindler gleichermaßen als Jude gehasst wie als Mann geliebt, starb Wolff 1913 auf einer USA-Tournee in New York an den Folgen einer Mittelohroperation.
Postum erfolgte wenige Wochen später in Prag die Uraufführung von „Zlatorog“, Wolffs zweitem, abendfüllendem Bühnenwerk: das dortige Nationaltheater verfügt über die Originalpartitur und das Aufführungsmaterial zu Wolffs symphonischer Ballettpantomime mit Frauenfernchor, die 1918 von Rolf Randolf verfilmt wurde.
Als die Sopranistin Rebecca Broberg erstmals eine Auswahl von Kompositionen Erich J. Wolffs auf zum Teil auch von Alexander Zemlinsky komponierte Lyrik auf einer Doppel-CD vorstellte (Thorofon/Bella Musica, CTH 2562/2), wurde die Veröffentlichung international als „Entdeckung“ gefeiert: „Wie hat man ihn nur vergessen können? Farbenreicher als Erich J. Wolff schrieb kaum ein Liedkomponist des frühen 20. Jahrhunderts.“ (kulturSPIEGEL 01-2010). Den unverkennbaren Personalstil Wolffs bewiesen zwei weitere CDs der amerikanischen Sopranistin, mit Liedern und Melodramen sowie mit zwei- und vierhändigen Klavierwerken Wolffs (CTH 2585 und 2686). Zwischenzeitlich hat auch der Bariton Steven Kimbrough eine Auswahl tiefer Lieder, u. a. auf Texte von Michelangelo und Gottfried Keller, für CD eingespielt, und zu Erich J. Wolff gibt es eine eigene Facebook-Seite.
Rechtzeitig vor Beginn des Gedenkjahres zu Wolffs 100. Todestag, hat die Neue Philharmonie Westfalen das 1909 erschienene, nun bei Ries & Erler neu verlegte Violinkonzert zur Aufführung gebracht. Die Partitur von Opus 20 ist dem 1890 in Calgary geborenen Wunderkind Kathleen Parlow gewidmet. Den Anfang von Parlows europaweiter Konzertkarriere hatte ihr Berlin-Debüt im Jahre 1907 ausgelöst, wobei sie wohl auch Erich J. Wolff begegnet ist, der sie möglicherweise auch als exzellenter Pianist begleitet hat. Allerdings sind bislang keine Aufführungen nachgewiesen, obgleich die seinerzeitigen internationalen Rechtsvertretungen für diese Komposition – für Großbritannien und dessen Kolonien, Russland und New York – dies nahe legen.
Über die enorme Fähigkeiten auf dem Soloinstrument verfügt auch die junge Geigerin Sophia Jaffé. Bereits mit ihrem stummen, intensiven Mitempfinden der spätromantischen Grundsituation nimmt sie ihr Publikum noch vor dem ersten Einsatz in Beschlag. In Doppelgriffen virtuos mit der elegisch hinzutretenden Harfe konzertierend, exzentrisch in Dreifachgriffen, Sextolen, Septolen und Oktolen inmitten von Triolenketten. Ihre Intonation, auch in extremen Lagen, ist tadellos, ihr Klangbild berückend. Kurz vor Ende des ersten, rund zwanzigminütigen Satzes exerziert sie Wolffs originale bis zur Dreistimmigkeit gesteigerte Kadenz, wobei es ihr gelingt, in der Fülle dynamischer und agogischer Kontraste gezupfter und gestrichener Notenwerte einen großen Bogen zu schaffen.
Vielleicht noch etwas breiter wünschte man sich den abgründigen Mittelsatz, der formal Wolffs Liedstil verpflichtet ist, mit einem äußerst reizvollen Wechselspiel der Solovioline mit gegenläufigen Sextolen der Harfe. Nochmals gesteigerte Virtuosität verlangt der Schlusssatz, mit einer mitreißenden Tanzweise zwischen Soloinstrument und Orchester, in permanenter tristanischer Steigerung und mit Brechungen, wie sie dem Hörer in der etwa gleichzeitig komponierten Siebten von Mahler dann auch im zweiten Teil des Konzerts begegnen. Das Mitempfinden der Violininterpretin kommt Wolffs leidenschaftlicher Grundstimmung und ihrer Bandbreite an exzessiven Steigerungen überaus entgegen.
Extreme Schwierigkeitsanforderungen zu bewältigen hat das mit 2 Flöten und Piccoloflöte, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Harfe und Streicher besetzte Orchester. Häufige Taktart- und Tempowechsel setzen ein streng rhythmisches Aufeinanderreagieren voraus. Doppelgriffe verlangt der vielfältig differenzierte, farbenreiche Satz auch von den Tutti-Violinen, -Bratschen und -Violoncelli. In wirkungsvollen Soli brillieren Bassklarinette, Englischhorn und Klarinette.
Der Erstdruck von Wolffs Partitur setzt den Hinweis auf die Tonart „Es-Dur“ in Klammern und signalisiert so den Boden später Romantik, von dem das Violinkonzert individuell zu einer avisierten Moderne abhebt.
Dass die Kombination mit Mahlers Siebter, von der Neuen Philharmonie Westfalen unter ihrem GMD Heiko Mathias Förster mit zauberhaften Stimmungen in den Nachtmusiken und greller Überpointierung im apotheotisch-chaotischen Finale auf sehr hohem Niveau dargeboten, trotz der Überlänge des Programms eine treffliche Zusammenstellung ergibt, erweist sich an diversen Querverbindungen zu Wolff. Die stellen sich wiederholt ein, etwa bei Mahlers zweitem Nachtstück mit seinem solistischen Zusammenspiel von Gitarre und Mandoline zu Wolffs Op. 22, No. 5, „Mandolinen“, in der beiden Komponisten gemeinsamen wilden Zerrissenheit des Materials oder auch in den Sphärenklängen bei Mahler und in Wolffs Hafis-Gesängen. Und schließlich schaffen beide Komponisten in ihrer Symphonik eine paraszenische Dimension, – von der Neuen Philharmonie Westfalen, von Förster und Jaffé trefflich umgesetzt.
Anlässlich des Jubiläums 60 Jahre Städtekonzerte wird der WDR dieses Konzertprogramm am 23. Oktober live aus Gelsenkirchen übertragen.
Weitere Aufführungen: Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier, 22. und 23. Oktober, Kamen 24. Oktober 2012.
WDR 3 überträgt das Konzert live am 23. Oktober um 20:05 Uhr.