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Ein Bühnenbild in ständiger Metamorphose. Matthias Rexroth als Arcane. Foto: Thiemo Hehl
Ein Bühnenbild in ständiger Metamorphose. Matthias Rexroth als Arcane. Foto: Thiemo Hehl
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Utopia lässt grüßen: Händels „Teseo“ an der Stuttgarter Staatsoper musikalisch geerdet

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Drei Männer, drei Frauen: Sechs hohe Stimmen. So schön und exotisch kann eine Opera seria sein, wenn man heute die im Barock von Kastraten gesungenen Partien allesamt mit Countertenören besetzt. In der Stuttgarter Staatsoper wurde die bejubelte Premiere von Georg Friedrich Händels selten gespielter Oper "Teseo" zum echten musikalischen Highlight, das niemand verpassen sollte, der nach außergewöhnlichen Klangerlebnissen hungert.

Als Teseo und Agilea im vierten Akt nach überstanden Qualen im Duett sich ihrer gegenseitigen Liebe versichern, geschah etwas, was musikalisch zu den ganz raren Augenblicken gehört: Im Verschmelzen der ungewöhnlich frei und leicht sich artikulierenden Mezzosopranlage des Countertenors Franco Fagioli mit dem sehr natürlichen Timbre von Sopranistin Jutta Böhnert schien sich eine Utopie verwirklichen zu wollen: die Utopie einer autarken, gleichberechtigten, freien, ja allen äußeren Einflüssen trotzenden Liebe zwischen Mann und Frau. Nicht ihre Körper umschlangen sich, nein, die Koloraturen, die Stimmfarben, der Tonfall wurden eins.

Von dieser Szene aus gesehen erhielt die Inszenierung von Igor Bauersima durchaus ihre musikalische Erdung. Denn auch das Ende des Geschlechterkampfes könnte in der Utopie von jener menschenfreundlichen, freien Republik, die am Ende der Oper vor ihrer Verwirklichung steht, Thema sein.

Bauersima verlegt die Handlung vom antiken Athen in einen zukunftsnahen totalitären Staat, der sich inmitten einer wirtschaftlich zugrundegerichteten Welt nur noch durch Kriegsgewinne Ansehen verschaffen kann. Die bösen Herrscher sind der einfältige König Egeo (Aigeus) und seine verhaltensauffällige Medienberaterin Medea, die eigentlich die Verlobte Egeos ist. Das Volk muss hungern und wird durch Schlägertruppen in Schach gehalten. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die opera-seria-typische Handlung durchaus stimmig: Die fiese Medea als Spinne im Netz der Gefühle greift – hier weniger durch Zauberkraft als vielmehr durch die physische Gewalt ihrer Folterknechte – brutal in die Schicksale der anderen Protagonisten ein: Denn sie will den Kriegshelden Teseo (Theseus) für sich haben. Der aber liebt Agilea, die wiederum von König Egeo begehrt wird. Involviert in das Ganze ist auch das zur Intrige neigende, dritte Paar im Bunde Clizia und Arcane. Agilea muss sich ständig gegen die Belästigungen des Königs wehren und wird dazu noch von Medeas Schlägern gefoltert, damit sie ihrer Liebe zu Teseo entsage. Aber diese Liebe ist nicht korrumpierbar und wird zum Gradmesser einer besseren Zukunft. Am Ende muss Medea aufgeben, fliehen, nachdem sie – zumindest in dieser Inszenierung – Egeo erschossen hat. Die Macht übernimmt nun Teseo, der die düstere, geistferne Monarchie in eine lichte Republik verwandeln wird, in der das Recht regiert.

Insgesamt gelingt die Implantierung der Geschichte in ein zeitnahes Umfeld durchaus stimmig – auch wenn sich die grundlegende Idee der Inszenierung aus einer überlieferten Legende speist, die in Händels Oper nicht thematisiert wird: Die besagt, dass der griechische Heros Theseus, als er an die Macht kam, die erste Republik der Welt ausgerufen habe und damit zum Erfinder der Demokratie avancierte. Einzelheiten der Inszenierung jedoch erschließen sich erst nach Studium des Programmheftes. Dass Teseo nicht nur Kriegsheld, sondern auch Intellektueller ist, der zu den Klängen der Ouvertüre einen von ihm erfundenen Reaktor in Betrieb setzt, der das Land mit Strom versorgt und damit rettet, erklärt sich nicht von selbst und spielt im Weiteren keine Rolle mehr – außer, dass das Innere des Reaktors mehrmals als düsterer Hintergrund dient.

Die Bühne, von Bauersima selbst entworfen, befand sich dreieinhalb Stunden lang in ständiger Metamorphose: Bewegliche, immer wieder neu kombinierbare Wandflächen und geometrische Objekte drehten sich, schoben sich ineinander, schienen gelegentlich sogar zu tanzen. Die emsige Betriebsamkeit der barocken Bühnenmaschinerie nachempfindend, wurden die weißen Flächen mit Georg Lendorffs Videoprojektionen immer wieder in neue, mal starre, mal bewegliche Bilder getaucht: Von der kargen Fabrikhalle ging's flugs in die flimmernde Medienzentrale, von der Meereslandschaft in die Wüste, das abstrakte Gitternetz mutierte zu Gitterstäben. Und immer wieder blauer Himmel und fliehende Wolken. Gelegentlich konnte man während einer langen Dacapo-Arie gar die worthülsige Rede Egeos lesend mitverfolgen. Auch wenn die ständigen Verwandlungen oft mehr Illustration als inhaltliche Ergänzung boten: Ihr ästhetischer Reiz sorgte doch für Dauerunterhaltung. Zeitnah auch die von Johanna Lakner entworfenen Kostüme, die die Bühnenfiguren nach dem Prinzip kleideten: je böser desto schicker.

Konrad Junghänel am Dirigierpult animierte das mit modernen Instrumenten ausgestattete Staatsorchester in zunehmendem Maße zu lebendigem, deutlich geformtem Spiel, das vor allem durch seinen harten, rhythmischen Drive die Luft zum Vibrieren brachte.
Ihre besondere Aura aber erhielt diese Produktion durch die darstellerisch und stimmlich mitreißend agierenden Sänger und Sängerinnen. Die phänomenale Helene Schneiderman brillierte als furios auftrumpfende Medea mit sicher artikulierten Koloraturen und kraftvoller Farbe. Sopranistin Olga Polyakova als Clizia sang sich im Laufe des Abends in sichere Höhen.

Matthias Rexroth als Arcane schmeichelte den Ohren durch seine warm timbrierte, geschmeidige Altstimme, während Jutta Böhnert als Agilea weniger durch extrovertierte Virtuosität als durch verinnerlichten, lyrisch-natürlichen Ausdruck berührte. Kai Wessel als Egeo sang seine Alt-Partie zwar nicht schön, oft schrill, dafür aber sachgerecht genau. Bei ihm trat das Artifizielle des Kopfstimmensingens am deutlichsten zutage. Bei Franco Fagioli als Teseo war von letzterem nichts zu spüren. Mit strahlkräftiger, sicherer Höhe, dabei natürlich und frei artikulierend, meisterte er seine Mezzosopranpartie mit verblüffend perfekt gesungenen Koloraturen.

Ein uneingeschränkt begeistertes Publikum belohnte am Ende nicht nur die Sänger und Sängerinnen, sondern die gesamte Produktion inklusive des Regie-Teams mit tosendem Applaus.

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