Im Passionsspielhaus Erl mit seiner unnachahmlich direkten, kristallklaren, aber doch weichen Akustik, gibt es im Wagner-Jahr 2013 ein anderes Jubiläum: 400 Jahre Passionsspiele. In anderen Sommern des sechsjährigen Passionsspiel-Turnus’ war Festspielintendant Gustav Kuhn mit seinen Tiroler Festspielen an umliegende Orte ausgewichen. Seit diesem Jahr prangt neben dem Passionsspielhaus ein halbfertiger, imposanter Neubau eines Winterfestspielhauses, das Platz für 800 Zuhörer bieten und einen größeren Orchestergraben als die Wiener Staatsoper besitzen wird.
Eine erste Wintersaison soll am 26. Dezember 2012 beginnen. Finanziert wird der auf 36 Millionen Euro veranschlagte Bau, wie auch die späteren, laufenden Kosten, von der Familien-Privatstiftung des Präsidenten der Tiroler Festspiele Erl, Hans Peter Haselsteiner. Die künstlerische Gesamtleitung wird aber weiterhin in den Händen des Gründers und derzeitigen Leiters Gustav Kuhn liegen.
Auch bei „Tannhäuser“, den Gustav Kuhn in Personalunion von Dirigent und Regisseur seinem Erler Wagner-Zyklus im Passionsspielhaus in diesem Sommer hinzugefügt hat, sitzt das Orchester der Festspiele Tirol hinter einem Gazeschleier, sichtbar hoch gestaffelt, auf dem hinteren Teil der Bühne. Eine sehr präzise Einstudierung sorgt dafür, dass die Solisten vor dem Orchester und ohne Blickkontakt zum Dirigenten, auch ohne Monitore treffsicher und musikalisch präzise singen.
Gustav Kuhn hat Wagners „Tannhäuser“-Fassung letzter Hand gewählt, die in Bayreuth seit der Inszenierung durch Siegfried Wagner (in den Jahren 1930 und 1931) nicht mehr gespielt worden ist und dort auch in diesem Sommer nicht erklingen wird. Die im Volksmund „Pariser Fassung“ genannte Version basiert auf Wagners französischer Umarbeitung des Jahres 1861, weist aber – außer Wagners Rückübersetzung in die deutsche Sprache – noch zahlreiche weitere Veränderungen gegenüber Paris auf, insbesondere den nahtlosen Übergang der Ouvertüre in das Bacchanale.
Den Antagonismus der Welten von Venusberg und Wartburg, Sinnlichkeit und Konvention, hat Wagner hier noch weiter zugespitzt, indem er in allen drei Akten nur die Passagen rund um Venus, inklusive Tannhäusers Gedanken, musikalisch neu gefasst hat. Venus ist nun eine leidende Göttin, mit deutlichen, auch musikalischen Parallelen zu Kundry. Und die Musik der in ihrem Umfang mehr als verdoppelten Venusberg-Szene gehört zum Raffiniertesten, was Wagner komponiert hat. Gerade ohne diese neuen Teile des „Tannhäuser“-Partitur sind „Samson et Dalila“ und „Pelléas et Mélisande“ nicht denkbar.
Für das umfangreiche Bacchanal hat der Komponist diverse pantomimische, mythologische Realisierungen entworfen. In Erl gestalten es zehn Damen, die zu schwarzer Unterwäsche zunächst Kopfbedeckungen à la historische Wartburg-Gesellschaft tragen. Die Gleichsetzung von Venusberg und Wartburg, die das Ende der Inszenierung szenisch bestimmen wird, ist hier bereits angedeutet. Auf einem blauen, konkaven Dreieck liegt Venus, mit gespreizten Schenkeln, und Tannhäuser, auch hier dem „Französischen“ Rechnung tragend, mit seinem Kopf in ihrem Schoß. Aber die Enthüllungen von Kuhns „Bacchanal-Personal“ sind auch musikalisch: die Venus-Damen entkleiden fünf Harfen. Eines dieser Instrumente spielt ein kostümierter Harfenist (Antonio Ostuni). Er dient später auch Wolfram, der dem Kollegen spielerisch seine Einsätze gibt. Außer bei der textimmanenten Harfe, ist die Unterscheidung zwischen transitiver und konkreter Musik in Erl aufgehoben, zumal die Bühnenmusik sichtbar aus dem vortrefflich disponierten, sichtbaren Orchester ertönt.
Der junge Hirt ist bei Kuhn weder ein Knabe, noch ein als Knabe kostümiertes Mädchen, sondern eine Maienkönigin mit Umbauverpflichtung (von Michelle Brusemi berückend gesungen); im halblangen Kleid nutzt sie Venus’ Bett als Rutschbahn und sorgt dann für die Verwandlung der Szenerie (Bühne: Folko Winter). Doch auf jenes Kreuz, das selbst noch in unkonventionellen Aufführungen Tannhäusers Gebetsstätte im Wartburgtal symbolisiert, wird im Passionsspielhaus verzichtet. Der erste Auftritt des Pilgerchors erfolgt auf dem Gipfel der Orchesterpyramide. Die Kostüme der Minnesänger, auf der Jagd und unverändert beim Sängerkrieg, gemahnen an Tiroler Schützen – in Rot. Der Landgraf trägt denselben Schnitt mit ausgestellten Hosenbeinen, aber in Gold. (Kostüme: Lenka Radecky).
Streng getrennt treten Damen und Herren in der Wartburg auf, die Herren in schwarzen Beinkleidern und mit Zylindern, die Damen ebenfalls in Schwarz, fast so weit dekolletiert wie die Venus, aber mit extravaganten grünen Hüten. Aus dem umgekehrten Bett der Venus ist der Thron des Landgrafen geworden. Der Einzug der Sänger und Wolframs frustriertes Verhalten weisen parodistische Momente auf, obgleich die „Meistersinger von Nürnberg“, die Wagner als Satyrspiel zum „Tannhäuser“ konzipiert hatte, ebenfalls auf dem Erler Spielplan stehen; beiden gemeinsam sind nun gestylte Singestühle. Auf das viel besungene, strafende Schwert wird im „Tannhäuser“ verzichtet, statt dessen prangt über der Szene ein geschärfter Kronleuchter, der sich gefährlich herabsenkt, nachdem sich Tannhäuser als Venusberg-Besucher geoutet hat. Tannhäusers Konkurrenten drohen die Waffenstäbe aus diesem Leuchter zu brechen, unterlassen es aber.
Den ganzen dritten Aufzug hindurch ist Elisabeth auf der Bühne. Vordem gold gewandet, trägt sie nun ein Faltengewand aus dem Stoff des „Bachanal-Personals“; sie betet in einer Kapelle, vom ehemaligen Venusbett als Baldachin überspannt. Auf Tannhäusers Anrufung gruppieren sich Venus und ihre Damen vor Elisabeth. Diese schließt Venus nun in ihren Umhang ein und mutiert zu einem Doppelwesen, als Heilige mit venusisch erfülltem Unterleib.
Der Kronenleuchter ist im dritten Aufzug um seine gewaltigen Waffenstangen dezimiert; die jungen Pilger führen diese mit sich als Vervielfachung jenes besungenen Stabes, der die Fehlbarkeit des Papst-Spruches signalisiert, mit grünem Laub an den Spitzen. Das Bacchanal-Personal nimmt die Stäbe entgegen und bildet damit erneut eine Krone.
Von Wagner so komponiert, aber selten demgemäß szenisch realisiert, singen Landgraf und Sänger das Schlussensemble mit.
Die Solopartien der Erler Aufführungen dieses Sommers sind mit Sängerinnen und Sängern der Accademia die Montegral bis zu vierfach besetzt. Am Premierenabend dominierte die österreichisch-armenische Sopranistin Arpiné Rahdjian als Elisabeth, kernig und strömend. Stimmgewaltig, aber undeutlich in ihrer Diktion, gestaltete die Schweizerin Mona Somm die Venus. Schön und intensiv sang Michael Kupfer den Wolfram, blieb aber als Hauptgegenspieler Tannhäusers dennoch eindimensional. Der mexikanische Tenor Luis Chapa kommt aus dem italienischen Fach; die Titelpartie bewältigt er mit einer Reihe unterschiedlicher Techniken; in seiner Zerknirschung stärker als in der Leidenschaft (und höchst beachtlich im Schluss-Ensemble des zweiten Aufzuges), ist er zwar exakt in seiner Wiedergabe des Notentextes, aber im gleichen Maße textungenau. Den Landgraf charakterisiert Heldenbariton Thomas Gazheli stimmlich originell als einen gefährlicher Machtpolitiker. Stimmgewaltig und präzise singt die von Marco Medved einstudierte Chorakademie der Tiroler Festspiele Erl.
Schmerzlich mag für manche Opernfreunde Wagners Verkürzung des Sängerkriegs sein: in Wagners Spätfassung bringt Walther von der Vogelweise keinen eigenen Beitrag mehr, und Tannhäuser reagiert mit den vordem an Walther gerichteten Worten sogleich auf Wolframs Ansprache.
Maestro Gustav Kuhns Festspielproduktion Aufführung erweist sich in erster Linie als ein klangstarkes Plädoyer für Wagners letzte Partitur-Fassung. Heftiger Beifall, insbesondere für das Orchester und seinen (Festspiel-)Leiter.
Weitere Aufführungen: 16. und 29. Juli 2011