Schon seit drei Jahren gibt es sie, die Italian Opera Academy, die Riccardo Muti in Ravenna ins Leben gerufen hat. Sie steht angehenden Dirigenten und Korrepetitoren offen, die sich unter Anleitung des Maestro eine italienische Oper erarbeiten wollen. Bisher ging es um Verdi. Zuerst war es „Falstaff“, dann „La Traviata“ und in diesem Herbst folgte „Aida“ – die Muti eben bei den Salzburger Festspielen dirigiert hatte. Und für die Akademie 2018, vom 21. Juli bis 3. August, ist mit „Macbeth“ wiederum ein Verdi angesagt.
Es verwundert nicht, dass Muti zunächst seinem Verdi treu bleibt. „Verdi ist der Musiker des Lebens, – und sicherlich ist er der Musiker meines Lebens“, hat er im Verdi-Jahr 2013 seinen Essays in der Einleitung vorangesetzt (auf italienisch als „Verdi , L’italiano“ bei Rizzoli Milano erschienen; die deutsche Ausgabe „Mein Verdi“, Henschel Leipzig, ist zur Zeit vergriffen). Als Dirigent hat Muti bisher an die zwanzig Opern Verdis aufgeführt, von „Nabucco“ bis „Falstaff“. So nehmen auch in den Essays aufführungspraktische Fragen und Erfahrungen einen gewichtigen Platz ein.
Denn das Opernwerk Verdis ist ja bis heute so etwas wie „Freiwild“ geblieben. Eine verbindliche Aufführungspraxis lässt sich kaum ausmachen. Im Gegenteil, das Feld wird nach wie vor von dubiosen „Traditionen“ überwuchert und vielfach beherrscht von willkürlicher, selbstherrlicher Anmaßung. Zwar fehlt es heute nicht (mehr) an textkritischen Ausgaben seiner Partituren. Aber es mangelt Verdi gegenüber noch immer an Gewissenhaftigkeit, die „Anweisungen“, wie sie dem Notentext unmissverständlich zu entnehmen sind, in praxis zu respektieren und durchzusetzen. So sieht sich Muti aus einer ethisch begründeten Verantwortung Verdis Werk gegenüber in die Pflicht genommen – dort nämlich, wo Ästhetik und Moral aufeinandertreffen.
Pädagogischer Eros
Im Gespräch mit dem 76-jährigen Maestro kamen noch andere Dimensionen seines wachsenden pädagogischen Engagements zu Wort. Der Dirigent ist von der Selbstachtung eines Handwerks getragen, das er sich in den Ausbildungsjahren aneignen konnte. Über seinen Lehrer und Mentor Antonino Votto (1896–1985) erhielt er am Mailänder Konservatorium Ansprüche und Praktiken des Metiers von Arturo Toscanini aus erster Hand vermittelt. Votto war in den zwanziger Jahren an der Scala der engste musikalische Mitarbeiter von Toscanini. „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“ (Hippokrates). Unüberhörbar schwingt in Mutis Äußerungen auch die Sorge um sein Musikverständnis, sein eigenes musikalisches Erbe mit. Immer neue Trends mögen sich im Musikleben bilden. Doch allzu oft wird vorschnell und leichtfertig beiseite gelegt, was Studium, Erfahrung und jahrzehntelange Arbeit an grundlegenden Einsichten errungen haben.
Zwei vorbildliche Modelle
2004, noch im letzten Jahr seiner knapp zwanzigjährigen Tätigkeit als musikalischer Chef der Mailänder Scala, stellte Muti ein von ihm gegründetes Jugendorchester vor, das Orchestra giovanile Luigi Cherubini. Zu Mutis bitteren Erfahrungen in Italien gehörte in den Jahren seines internationalen Durchbruchs der Kahlschlag in der Orchesterlandschaft der RAI, später und heute die schwierige Lage, mit der junge Musiker nach ihrer Ausbildungszeit konfrontiert sind. Seine Absicht war es deshalb, kein festes neues Orchester zu formieren, sondern möglichst vielen angehenden Instrumentalisten wegweisende Orchestererfahrungen unter optimalen künstlerischen und wirtschaftlichen Bedingungen anzubieten.
Und nun hat Muti 2015 seinem Orchestra die Akademie an die Seite gestellt. In der konzentrierten Zeitspanne von zwei Wochen kommt es zu einer raffinierten und wirkungsvollen Mischung von Unterweisung und angeleitetem Produzieren. Bezeichnend ist der Schauplatz des Geschehens: nicht etwa ein würdiger Akademie-Palazzo, sondern das größte Theater der Stadt, das Teatro Alighieri (unweit von Dantes Grabkapelle). Dort finden auch die Opern-Aufführungen und Konzerte des alljährlichen Ravenna Festival statt. Es suggeriert allen Beteiligten den Ernstfall – tatsächlich zielt der pädagogische Prozess auf konzertante Aufführungen zum Abschluss der Academy.
Gleich zwei Konzerte waren in diesem Jahr angesetzt. Zunächst führte Muti selbst mit ausgewählten Sängern, dem Opernchor des Theaters von Piacenza und dem Orchestra giovanile Luigi Cherubini, das während der beiden Wochen täglich den angehenden Dirigenten zur Verfügung stand, Ausschnitte aus Aida vor. Das Programm wurde dann zwei Tage später mit denselben Sängern von den Nachwuchs-Dirigenten alternierend geleitet. Ein schlüssiger Querschnitt von über zwei Stunden Dauer wurde geboten. Muti ließ es dabei nicht zu Stückwerk kommen. Ganze Szenenfolgen reihten sich in ihrer konzisen musikdramatischen Anlage aneinander und machten hörbar, wie weit Verdi in „Aida“ die sogenannte „Nummernoper“ hinter sich gelassen hatte.
Verdi beim Wort genommen
Einen besonderen Reiz dieser Tage machte es aus, Riccardo Muti nun gleichsam als „Dozenten“ über das Meisterwerk Verdis sprechen zu hören, gerade wenn man soeben in Salzburg seine jüngste Interpretation der Oper miterlebt hatte. Der Maestro wurde nicht müde, den Musikern, die sich ihm anvertraut hatten, die innige Beziehung von Wort und Ton, die Verdis Schaffen bis in die feinsten instrumentalen Verästelungen hinein charakterisiert, aufzuzeigen und musizierend nachvollziehen zu lassen. Setzt er sich ans Klavier, um eine Phrase, wie sie ihm vorschwebt, klingendes Beispiel werden zu lassen, so begreift man über Anschlag und Intimität des Klaviertons, wie viel die subtile melodische Erfindungskraft Verdis mit der Liedkomposition seines Jahrhunderts gemeinsam hat – das deutsche Lied nicht ausgenommen.
Dass Muti als pädagogischer Vermittler überdies ein hinreißender Entertainer ist, das stellte sich an diesen von ihm im Alleingang bestrittenen Akademietagen gleichsam nebenbei heraus. Da wurde von ihm vorgeführt, wie viele Standards und Schlendrians Verdis kompositorische Absichten verfälschen und trivialisieren. Mit Witz, Ironie, gestischen und mimischen Verdeutlichungen karikierte der neapolitanische Maestro all diese Unsäglichkeiten. Keinem Teilnehmer, ob Sänger oder Dirigent, dürfte es eigentlich je wieder möglich sein, rückfällig zu werden.
Noch an der Scala hatte Muti mit Giorgio Strehler eine „Aida“ geplant, die durch den plötzlichen Tod (1997) des Regisseurs Projekt blieb. Das Konzept sah pure Lichtregie vor, keinerlei Bühnenbauten. In diesen Tagen in Ravenna brachte nun Muti selbst viel Licht in die Aida-Partitur. Es gelang ihm, sie zu entschlüsseln – ohne jegliche Anmaßung, ihr auch die innersten Geheimnisse entwinden zu wollen.