Henri Pousseurs „Votre Faust“, ein typisches Werk der sozialen, kulturellen und politischen Umwälzungen der Sechzigerjahre, führte bei seiner Uraufführung, 1969 an der Piccolo Scala in Mailand, zum Desaster. Für die Wiederaufführung daselbst, in der Saison 1981/82, überarbeitete der belgische Komponist seine Partitur und eliminierte dabei die Wahlmöglichkeiten des Publikums für den Fortgang der Handlung im ersten Akt. In dieser Form erlebte die Oper nun ihre deutsche Erstaufführung im Berliner Radialsystem V.
Ein junger Komponist mit Namen Henri – wie Heinrich Faust und wie der 1929 geborene Henri Pousseur – erhält in dieser Opernhandlung von einem mephistophelischen Theaterdirektor (Peter von Strombeck) den gut bezahlten und unbefristeten Auftrag zu einer „Faust“-Oper. Er geht auf Reisen, mit einem in die ungleichen Schwestern Maggy und Greta aufgespaltenen Gretchen (Julia Reznik). Der Theaterdirektor, der ihn mit Hilfe einer Sängerin (die Schauspielerin Meridian Winterberg), beschattet, initiiert, dass das Publikum über den Fortgang der Handlung abstimmen solle. In der Berliner Aufführung übernimmt diese Aufgabe jedoch einer von drei Designern der Jahrmarkts-Schaubuden, der sehr eigenwillig jenen Lärmpegel misst, den das Publikum mit ausgeteilten blechernen Rasseln zum Ausdruck bringen darf.
Grundsätzlich vermögen diese Lärmpegel nur Entscheidungen über den Abbruch einer bestimmten Szene auszulösen, im Sinne einer Verschlechterung der Situation für den Komponisten Henri. Kurioserweise wählte das Publikum am Abend der zweiten Aufführung denselben Fortgang der Handlung nach der Pause – Henris Zusammensein mit Maggy – und driftete auch am zweiten Abend zur negativsten der finalen Möglichkeiten.
Nun sind negative Momente auf dem Theater ja zumeist auch eindrucksvoller als ein Happy End. Aber ganz so übel wollte es das Publikum am zweiten Abend offenbar doch nicht erleben, und alles schien auf die vierte der fünf Schlussmöglichkeiten hinauszulaufen. Da setzten bei der Abstimmung die Schlagzeuger lautstark mit ein, wodurch sich nicht nur die meisten der Wett-Teilnehmer im Publikum betrogen fühlten. Offenbar wollten die Künstler – 12 Instrumentalisten, vier Sänger und fünf Schauspieler – keinen anderen Schluss realisieren als am Premierenabend. Am Ende der Handlung erhielt also den definitiven Kompositionsauftrag zur Faust-Oper Richard (Peter Sura), als ein zwielichtiger Kollege des Hauptdarstellers (Franz Rogowski).
Das Libretto bietet eine Mixtur von Petrarca, Gerard de Nerval, Marlowe und Goethe, dessen „Was machst Du mir vor Liebchens Tür“ komplett in einer Popversion erklingt. Der französische Autor Michel Butor, Jahrgang 1926, war in seinen Romanen und Schriften ein Vorkämpfer für die Variabilität. Er hat den 2009 verstorbenen Komponisten überlebt und war in Berlin als Zeitzeuge zugegen.
Wie das Libretto, so arbeitet auch die Partitur mit einer Fülle von Bezugssystemen. Sie zitiert zunächst Anton von Weberns zweite Kantate, die dann orchestral angereichert wird und die Zeitgenossen Berio und Stockhausen, aber auch Monteverdi, Mozart und Gounod. Der Can-Can von Offenbach spannt den Bogen zu Glucks „Orpheus“, der besonders ausführlich zitiert wird, auch als Grundlage des Dr. Faustus-Puppenspiels. Die Postmoderne in der Musik arbeitet mit viel Schlagwerk, insbesondere Vibraphon-Effekten, aber auch pianistischen Soli und polyglotten Texteinsätzen der Instrumentalisten. Als Pendant zum offenen Pentagramm in der „Faust“-Handlung setzt Pousseur Fünfachteltakte, jeweils ohne den Schlag eins, ein. Am überzeugendsten sind jedoch immer noch die elektronischen Überlagerungen, Tonbandeinspielungen, die am Ende der Handlung den Bogen zu deren Anfang schlagen, mit einem Vortrag des gespielten Komponisten über die serielle Musik und einem Zitat von Paul Claudel.
Das hat die Regisseurin und Ausstatterin Aliénor Dauchez, gemeinsam mit dem Baseler Intendanten Georges Delnon zunächst recht kurzweilig in Szene gesetzt. Die bildenden Künstler Niklas Binzberger, Stefan Träger und Till Wittwer wurden als zusätzliche Raumgestalter für die Schaubuden gewonnen und sind in diesen auch leibhaftig zugegen. Vor der Pause wird eine schwarze Messe zelebriert und nach der Pause anstelle des Faust-Jahrmarkt-Puppenspiels eine Dressur mit Ziege und Hennen. Über das Bühnen- und Orchestergeschehen spannen sich farbige Glühbirnenketten, die zum Teil hinter Gittern positionierten Instrumentalformationen werden auf Bühnenwagen ebenso verfahren, wie der Dirigent Gerhardt Müller-Goldboom, der in Kostüm und Maske, an unterschiedlichen Standorten, souverän das Ensemble work in progress – Berlin und das Vocalconsort Berlin leitet. Besonders lautstark blättern die Musiker zwischen den jeweils verlangten Varianten der Szenen in ihren Noten hin und her.
Aber ein als Schauplatz für alle Szenen im Flugzeug, im Zug und auf dem Schiff dienendes Hydraulikpodest verliert allzu rasch an Wirkung. Und die Kostüme von Miriam Marto sind im Programmheft zwar ausführlich als besonders aufwändig geschildert – so ist etwa der Pullover des Komponisten aus Menschenhaar gewebt – aber im Spiel verpuffen solche Praktiken ohne jegliche Wirkung.
Die Aufführung in deutscher Sprache, übersetzt von Helmut Scheffel, war mit 165 Minuten Dauer angekündigt, währte aber – insbesondere durch eine ausgedehnte Pause, mit ihren Möglichkeiten zum Verzehr des Ergebnisses der Schwarzen Messe (Hühnersuppe), zum Trinken aus dem Gänsebrunnen (Cidre) und dem Abschluss von Wetten über das Ende der fünf finalen Möglichkeiten mehr als dreieinhalb Stunden. Das war denn doch – trotz einiger Kürzungen – zuviel des Guten.
Am zweiten Abend, bei dem nicht alle Plätze auf der Publikumstribüne gefüllt waren, gab es unbeabsichtigte Missfallensrufe aus animalischen, nicht aus musikalischen Gründen (gegen den szenischen Einsatz der Tiere), aber nach so viel intendiertem Missfallens-Klappern am Ende dann für „Euren“, also unseren „Faust“ ungetrübten Applaus.
Weitere Aufführung: 1. April 2013.