Vor sechs Jahren inszenierte die aus Berlin stammende Tatjana Gürbaca in Graz eine der meiststrapazierten Opern – „Rigoletto“ von Francesco Maria Piave und Giuseppe Verdi (uraufgeführt 1851 im Teatro La Fenice in Venedig). Der jungen Regisseurin gelang nach ziemlich übereinstimmender Auffassung der Rezensenten eine von frischem Mut und Elan geprägte „Neudeutung“:
Sie zeigte (was allerdings keineswegs originell erschien), dass der Hofnarr (zumindest äußerlich) keiner mehr ist und dass Rigolettos Arbeitgeber als Herrscher starke Burnout-Symptome zeigt und als zynischer Alleinunterhaltung in einem von hektischen Zwängen geprägten Männerclub agiert. Dieser ausgepowerten Männerriege stellte Gürbaca Rigolettos Tochter Gilda als Teenie gegenüber, das den Vater um den Finger zu wickeln weiß, ziemlich klare Vorstellungen von Selbstverwirklichung aufweist und den alten Herrn nicht für voll nimmt, wenn er von Ehre spricht. Klaus Grünberg entwickelte für diese Inszenierung eine Bühne mit labyrinthisch gestellten Holztürmen und am Ende einem Barackenambiente, wie es zwischen Puntigam und Straßgang anzutreffen sein mag. Silke Willrett steuerte Kostüme nach heutigen Alltagsmoden mit fahlem Dresscode in mattem Licht bei.
Jetzt hat Gürbaca mit dem selben Ausstattungsteam „Rigoletto“ nochmals realisiert, das Grundmuster der Versuchsanordnung belassen, aber die Ausführung – und insbesondere die Gestaltung des Bühnenraums – weitgehend geändert: Von Anfang bis Ende spielt alles an, bei und auf einem großen Tisch, der in den ersten beiden Akten von einem riesigen weißen und bis zum Boden herunterhängenden Tischtuch bedeckt ist (und so Versteckmöglichkeiten bietet), zuletzt aber nackt dasteht. Das Stück wurde seines historischen Kolorits entkleidet – die Handlung spielt ja eigentlich im 16. Jahrhundert und in Mantua (tönt aber mit den Klangmitteln aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ohne spezifische geographische Konnotationen in unsere Gegenwart).
Mit der Versuchsfolge, die Gürbaca anbot (und mit klugen Ausführungen im Programmheft vorbereitete), geht es um männerbündische Feiern und den von ihnen ausgehenden Herabsetzungen Außenstehender bzw. Demütigungen im inneren Sozialgefüge. Es geht um die Leere im Zentrum der Macht (der Egoist Herzog „kann einem auch irgendwie leidtun“) und es geht um die allein den Frauen zugedachte Liebesfähigkeit – die des Vaters Rigoletto wird als schiere Zumutung vorgeführt. Gilda wirft sich mit ihrer Liebe „dem ganzen perfiden und korrupten System entgegen“. So zeigt Gürbaca konsequent, d.h. in immanent stimmigen Modellen, dass „in der Oper Dinge geschehen, die auf einer ganz anderen Wirklichkeitsebene stattfinden“ – einer ‚unwirklichen‘. Ein häufig bemühtes Stilmittel ist die Pantomime, die alle Szenen des (nur aus Männern bestehenden) Chors auszeichnet: Alle Tuttisten machen (unscharf choreographiert) dieselben oder ähnliche Bewegungen, die sich verselbständigen – jeder bewegt sich ein wenig auf „individuelle“ Art. Das nimmt sich aus wie eine Studie über Spielräume des Subjektiven in einer durchformatierten Gesellschaft. Die Philharmonie Zürich unter Fabio Luisi wattieren mit einer gediegenen und fehlerfreien Leistung, aus der immer wieder Funken und Blitze aufleuchten.
Gilda, die Heldin Gürbacas, wird von Aleksandra Kurzak auf glaubhafte Weise als fünfzehnjährige Göre dargestellt und mit jugendlich kleiner, technisch nicht in allen virtuosen Passagen ausgereift wirkender Stimme bestritten. Aber sie ist ebenso ein „Hinkucker“ wie Saimir Pirgu, der weithin mit seinem vorzüglich und meist leicht geführten Tenor trumpft, dabei durchweg die Gesten des Lässigen, Gelangweilten und Willkürlichen zum wirkungsvollsten Einsatz gelangen lässt. Quinn Kelsey bringt stimmlich wie als Darsteller ein Maß an Raubeinigkeit und Unruhe mit, die den „Narren“ als Außenseiter in einer stressig konformistischen Gesellschaft markiert. Christoph Fischesser macht mit sonorer Tiefe den Berufskiller Sparafucile zum ruhenden Pol des Stücks und Judith Schmid charakterisiert dessen Schwester Maddalena als Intrigantin mit Herz – die Geschwister profilieren sich mit tadellosem Gesang und agiler Körpersprache.
Die Hälfte des Publikums war von Gürbacas Skelettierungsarbeit angetan, die andere bekundete lautstark Unmut. Was hätte dem Züricher Opernhaus und seinem noch vorm Ende seiner ersten Spielzeit in der Schweiz unter publizistischen Beschuss geratenen Intendanten Andreas Homoki Besseres beschert werden können im Verdi-Parcours des Jahres 2013?