Ohne Dirigent – so lautete der Titel des Eröffnungskonzerts des diesjährigen Berliner Festivals für Neue Musik „Ultraschall“. Das Kammerensemble Neue Musik Berlin stellte sich – wie wir es schon von einigen Ensembles kennen – die Aufgabe, ein ganzes Programm ohne Dirigenten zu bestreiten, machte jedoch diese Devise auch zum bestimmenden Auswahlkriterium der Werke im Programm dieses Abends.
Keiner soll sagen, dass dem KNM Berlin das dirigentenlose Spiel nicht gelungen sei. Im Gegenteil, unter bedeutend größerem Probenaufwand als üblich hat das Ensemble die Fertigkeit, komplexe Werke in zum Teil großer Ensemblebesetzung ohne Dirigenten zu spielen, auf eindrückliche Weise geradezu perfektioniert, sei es mit Kompositionen, die unter dieser Prämisse in Auftrag gegeben wurden wie das uraufgeführte Werk „drift + drag” (2009/10) von Christopher Fox, sei es mit Werken, die eigentlich einen Dirigenten voraussetzen wie Iannis Xenakis’ „Phlegra” (1975), oder solchen, die eigens zu dem Zweck entsprechend umgearbeitet wurden wie im Fall von „Besides” (2003) von Simon Steen-Andersen.
Dem Fokus des Programms zu dienen erwies sich Louis Andriessens Stück „Worker’s Union” (Gewerkschaft) als prädestiniert, obschon sich über die Ironie nicht hinwegtäuschen lässt, dass die damals musikalisch aktuelle Idee der Basisdemokratie, wie sie in dieser Komposition aus den 1970er-Jahren verarbeitet ist, heute wieder (oder heute noch?) aktuell sein sollte für junge Komponisten.
„Besides”, eine Komposition, die hauptsächlich mit der dynamischen Wahrnehmung durch verstärktes Leise- und gedämpftes Lautspielen von zwei voneinander entfernten Instrumentengruppen spielt, integriert den Anfangs eklatanten Widerspruch zusehens in eine einheitlichere Ordnung und mündet schließlich in einen quasi Neubeginn: „Beside Besides” für Cello solo.
Der Dialog zwischen Chaos und Ordnung, zwischen der irrationalen und der rationalen Welt, bestimmt typischerweise auch Xenakis’ Werk „Phlegra”, ein Klassiker des 20. Jahrhunderts, dessen kompositorische Schichtung mittels dreier Instrumentengruppen eine kammermusikalische Aufführung trotz groß besetzten Ensembles möglich macht. Innerhalb des Programms wohl die größte Herausforderung, der sich das KNM an diesem Abend erfolgreich gestellt hat. In „drift + drag” betrachtet Christopher Fox die Musik als einen physikalischen Prozess in dem die Instrumente dem Erdmaterial gleichen. So schiebt er Schichten gegeneinander, lässt sie verschmelzen, um sie dann neu zu formen und wiederum zerfallen zu lassen. Bei diesem metamorphen Vorgang wandert eine „heimliche” Dirigentenrolle von Instrument zu Instrument und bringt mit ephemeren Kombinationen von Instrumentengruppen und rhythmischen Zyklen einen uniformen Fluss in die Musik.
Anstoß und Inspiration für diesen Programmleitfaden gab vor allen Juliana Hodkinson mit ihrem Werk „some reasons for hesitating”, dem die Probenarbeit von Theaterschauspielern zugrunde liegt. So verzichtet die Komponistin ausdrücklich auf eine Partitur, die einen Außenblick auf das Ganze zulässt, und liefert lediglich 15 handgeschriebene Einzelstimmen, die im Probenprozess ein aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel entwickeln sollen, aus dem sich schließlich eine Dramaturgie, also ein Ganzes bildet. So steigen mit fortschreitender Entwicklung des Stücks nicht nur Wagnis und Potenzial, sondern auch Kohärenz der vielen kurzen, leisen Phasen, aus denen sich das Stück zusammensetzt. Die hohe Verantwortung des Einzelnen und die gleichzeitig hohe Abhängigkeit vom Anderen, die ein solcher Orientierungsentzug verlangt, lassen eine bemerkenswerte Konzentration und Spannung entstehen, die an diesem Abend auch beim Publikum im gut besuchten Saal des Radialsystem deutlich zu spüren war.
Die konzeptuelle Radikalität machte Hodkinsons „some reasons for hesitating” zum Herzstück des Programms. Schon schwieriger würde es, wollte man das musikalische Herzstück unter den neueren Kompositionen identifizieren, denn es drängte sich der Eindruck auf, dass die Musik in dem Programm weitgehend den Interessen des Konzepts weichen musste. Dass zudem die Interkommunikation, die unter den Musikern bei diesem Vorgang stattfindet, sich dem Publikum wohl mitteilt, mit diesem aber kaum geteilt wird, war ein irritierender Faktor, der beinahe das gesamte Programm begleitete und nur durch den kompromisslosen Aussagewillen der Musik Xenakis’ angenehm unterbrochen wurde. An der Stelle, an der sonst zwischen Künstlern und Publikum durch Musik kommuniziert wird, war das Publikum hier zuweilen Zeuge eines Ensemble-internen psycho-sozialen Experiments. Auf dieser Ebene gewiss ein spannendes Erlebnis, wenn man die Bereitschaft finden konnte, der Programmkonzeption mit besagter Finalität einen ungleich höheren Stellenwert als der Musik selbst einzuräumen.
Das Ultraschall-Festival dauert noch bis 30. Januar.