Ein Festakt Tage vor dem Datum der ersten Vorstellung – na gut, so werden heutzutage Jubiläen gefeiert. Das erste Kompliment muss an die drei offiziellen Festredner gehen: Intendant Nikolaus Bachler, Kulturminister Ludwig Spaenle und Landtagspräsidentin Barbara Stamm betonten in kurzen, aber prägnant formulierten Grußworten unterschiedliche Aspekte.
Bachler erinnerte daran, dass die deutsch-österreichische(!) Kultur-Barbarei der Nazis eben prompt auch zur Zerstörung des Hauses geführt habe. Spaenle hielt das enorme Bürgerengagement fest, das die Giebelinschrift „Rückgabe an Apoll und die Musen“ Realität werden ließ. Stamm bezog ausdrücklich das Staatsballett in das internationale Renommee der Bayerischen Staatsoper mit ein. Dazu je eine Gesangseinlage von Nina Stemme, Jonas Kaufmann und dem Staatsopernchor, vor allem aber der erste Auftritt von GMD Kirill Petrenko mit je einem Bonbon der musikalischen Hausgötter Mozart – Wagner – Strauss: alles elitäre Hochkultur? Ach was! Auf einem Stehplatz für drei Deutsche Mark bin ich im November 1963 an den ersten Abenden der Wiedereröffnung gestanden und dann jahrelang weiter mit dem Budget eines BAFöG-Studenten. Heute geht das schon ab vier Euro – und wenn es eine Premiere und ein zentraler „2.Rang mit Bankerl“ sein soll, dann kann das auch bis zu 28 Euro kosten: Immer noch weniger als ein Kinoplatz für eine nur zweidimensionale Live-Übertragung aus der New Yorker Metropolitan Opera oder für ein großes Rock-Konzert, in dem man deutlich unbequemer steht.
Natürlich gibt es den anderen Premieren-, Festspiel- und dann eben leider zu Unrecht pauschalisierten Opern-Eindruck: teure Limousinen, Designer-Roben, viel Botox und Bussi-Bussi, leider auch Innensaal-Absperrungen für Sponsoren-Gruppen (die eigentlich nur ihrer Gemeinwohl-Verpflichtung nachkommen). Aber das sind von den rund 250 Abenden pro Spielzeit kaum zwei Prozent. Außerdem sind schon seit den Achtundsechzigern viele äußerliche Konventionen gefallen, haben Jeans und offenes Hemd Eintritt in die festlichen Räume des Nationaltheaters gehalten. Längst sitzen auf den Partiturplätzen ohne Sicht jene Opernfreunde, die sich rein aufs Hören konzentrieren. Längst gibt es über die Jahrzehnte hinweg ganz oben in der Galerie, im dritten Rang und auf den Stehplätzen Gruppen von Kennern und Fans, die x-mal in Aufführungen gehen und vergleichen und sich begeistern und erregen und erhitzt diskutieren. Denn musikalische Dramatik und glutvoller Gesang lösen überwältigende Emotionen aus. Genau das ist eine der unsterblichen Faszinationen des seit vierhundert Jahren in München gepflegten Gesamtkunstwerks „Oper“, in dem alle Kunstgattungen zusammenwirken und jene Momente erzeugen, die alles Reale übergipfeln.
Doch zurück zum November 1963: Der Bauzaun war weg. Ein großer Kunsttempel ragte auf, beeindruckend, teils edel, teils vornehm. Schon die Säulenhalle des Eingangs und erst recht die beiden großen Treppen, die in das himmlische Blau der „Ionischen Säle“ führen, leisten einen Ausstieg aus dem Alltag. Diese festlichen Räume fordern den Besucher auf, sich vom Lärm der Welt, vom Müll der Betriebsamkeit zu lösen und sich zu öffnen für tönende Gleichnisse, Parabeln, Entlarvungen drinnen auf der Theater-Zauber-Bühne – und jene singulären Momente, in denen die Utopie allumfassender Humanität aufleuchtet. Ja, das gab es in einigen Dirigaten Wolfgang Sawallischs und immer bei Carlos Kleiber, in Inszenierungen Günther Rennerts, des frühen Jean-Pierre Ponnelle, bei Ruth Berghaus, Herbert Wernicke oder Achim Freyer, durch ein langes Defilée von hochexpressiven Sänger-Darstellerinnen und -Darstellern, zuletzt auch, als in der Intendanz Peter Jonas eine ganze Riege anglo-amerikanischer Regisseure den Kosmos Georg Friedrich Händels für Hier und Heute erschloss.
Elitäre Hochkultur? Nochmals nein: Wie sehr sich „Opas Oper“ zum musikalischen Theater entwickelt hat und bei ihren wirklich tragenden Sponsoren, den Steuern zahlenden Bürgerinnen und Bürgern Bayerns, angekommen ist, zeigt sich vielfältig: nicht nur in digitalen Klickzahlen, nicht nur in mal über 40.000, mal über 250.000 Buchungen der “Livestream“-Übertragungen von Aufführungen im Internet, nicht nur in den rund 20.000 Schüler- und Studentenkarten pro Saison. Darüber hinaus nämlich werden 13.000 Teilnehmer – vom Kindergartenkind bis zum Oberstufenschüler – mutwillig, nämlich in vielen Zusatzveranstaltungen mit dem „Musiktheater-Virus“ infiziert. Am deutlichsten zeigt sich die sympathische Scheu des Opernhauses vor gesellschaftlicher Exklusivität an den „Oper für Alle“-Abenden, wenn bei jedem Wetter an die achttausend Begeisterte den öffentlichen Raum vor dem Nationaltheater „besetzen“. Dann liegt ein Hauch von griechischer Polis in der Luft, dann könnte man fast davon träumen, dass der Mensch durch die hehre Kunst zum Bürger einer besseren Gesellschaft werden kann. Da muss dann ein dankbarer Blick auf die abendlich erleuchtete Tempelfassade fallen: Schön und gut, dass es dich gibt, Nationaltheater!