Musikgeschichte war noch nie ein einfaches Geschäft. War sie seit jeher als akademisches Fach und bildungsbürgerliches Interessengebiet geprägt von philologischer und analytisch-nachvollziehender Kärrnerarbeit, hat sich die Problemlage in jüngerer Zeit noch erheblich verkompliziert. Denn seit die Wissenschaft im Laufe der achtziger Jahre begonnen hat, die sogenannten großen Werke der Musikgeschichte wieder in ihre historischen Kontexte einzubetten, sind als Gegenpart der Komponisten die Hörer in das Blickfeld gerückt. Mit „The Art of Listening“, einer Kombination aus einem dreitägigen Symposium und einem kleinen Festival, sollte im Radialsystem V das gegenwärtige Wissen um unterschiedliche Kulturen des Musikhörens gebündelt werden.
Das Symposium war von dem in Potsdam lehrenden Musikwissenschaftler Christian Thorau und dem Berliner Kulturhistoriker Hansjakob Ziemer initiiert worden, was selbst schon Indiz für wissenschaftliche Konjunkturen ist. Tatsächlich kamen nämlich viele der impulsgebenden Studien, durch die die sich wandelnden Kulturen des Musikhörens zu einem lohnenden Gebiet nobilitiert wurden, nicht allein aus dem Lager der Musikwissenschaft.
Der amerikanische Historiker James H. Johnson, einer der Hauptredner am ersten Konferenztag, hat über die Musikkultur im Paris des 18. und 19. Jahrhunderts geforscht und in seinem als grundlegend geltenden Buch „Listening in Paris“ von 1995 die bis heute zentrale Frage dieses Forschungsfeldes gestellt: Wie kam es, dass aus den lärmenden, Zerstreuung und Aufmerksamkeit suchenden Konzert- oder Opernbesuchern der Zeit vor 1800 stille und aufmerksame Hörer im Sinne der bürgerlichen Musikkultur werden konnten? Gegenwärtig ist Johnson auf der Suche nach einem Zugang zu den inneren „Erfahrungslandschaften“ historischer Publika und will dafür etwa die Geschichte des Lesens oder Bildquellen erschließen.
Hansjakob Ziemer und der britische Historiker Neil Gregor beleuchteten Tendenzen des Musikhörens im Umfeld der beiden Weltkriege. Ziemer konnte zeigen, wie sich die Atmosphäre in deutschen Konzertsälen ab 1914 hin zu einem patriotisch aufgeladenen, die nationale Einheit betonenden Hören veränderte. Gregor dagegen näherte sich aus der umgekehrten Richtung und versuchte zu belegen, dass selbst noch im Nationalsozialismus, entgegen landläufiger Vorstellungen des Totalitarismus, von unterschiedlichen Wertvorstellungen geprägte Hörhaltungen nebeneinander existierten. Ein solcher Pluralismus sei, daran erinnerte der in diesem Forschungsfeld ebenfalls sehr profilierte William Weber, ohnehin für alle Epochen anzunehmen.
In mehreren Vorträgen wurde versucht, die Kategorie des Raums als Analyseinstrument in Position zu bringen. Gesa zur Nieden, Musikwissenschaftlerin und Juniorprofessorin in Mainz, möchte auf diese Weise die Komplexität des Beziehungsgefüges in historischen Auditorien zu ihrem Recht bringen, während ihr Wiener Kollege Wolfgang Fuhrmann anregende Gedanken über die Hervorbringung von Intimität durch Kammermusik im häuslichen Kontext entwickelte. Jonathan Sterne schließlich stellte Überlegungen aus seinem bald erscheinenden Buch über das Kompressionsverfahren MP3 vor. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler führte anschaulich vor, wie das Dateiformat auf das beiläufige Hören von Musik nach Industriestandard hin angelegt worden ist. Mit dem analytisch rezipierenden Idealhörer dagegen sei bei der Entwicklung dieser Technologie Anfang der neunziger Jahre nur noch als Extremfall gerechnet worden.
Dem nahe liegenden, wenn auch nicht besonders klugen Vorwurf, über das praktische Musikhören nur zu theoretisieren, begegneten die Veranstalter von „The Art of Listening“ mit einem musikalischen Abendprogramm, dessen Höhepunkt die Aufführung von Morton Feldmans Oper „Neither“ war. Das Regiekonzept des Berliner Künstlernetzwerkes phase7 umfasste hier nicht nur eine zentral im Saal stehende Bühne, auf der die Sopranistin Eir Inderhaug, als einzige Akteurin des an einem knappen Text von Beckett entlang entwickelten Stücks, in eine futuristische, vielleicht schon retrofuturistische „Matrix“-Ästhetik eingehüllt wurde, sondern griff auch auf die musikalische Ebene über. Nicht instrumental realisiert wurde der Orchestersatz, stattdessen mittels sogenannter Wellenfeldsynthese sich frei bewegend in den Raum projiziert. Als Aktualisierung einer von ihrer eigenen Zeitgebundenheit unter Umständen bedrohten Anti-Oper tat das gute Dienste. Selten nur wird man von Feldmans Musik so getragen, wie es hier möglich war.
Eine Nachtmusik am Folgeabend konfrontierte ein auf Yogamatten liegendes Publikum mit Scarlatti-Sonaten und auch die abschließende „Radiale Nacht“ deklinierte verschiedene Arten der Aufführung durch, wobei die Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita für Violine allein als Referenzpunkt diente. Das Stück wurde in einer Klanginstallation in hohe und tiefe Töne zerlegt und von dem stilistisch kaum festzulegenden Ensemble „a rose is“ in immer neue Genrezusammenhänge überführt.
Bliebe noch die Frage nach dem umgekehrten Weg, also von der Theorie in die Praxis: Kann auch der gegenwärtige Konzertbetrieb profitieren von dem Wissen um all die anderen historisch belegten Weisen des Umgangs mit Musik? Verglichen mit dem, was durch solche Anregung (wieder) denkbar wird, erscheinen viele bisherige Ansätze zur Relativierung der gewöhnlichen Konzertform – einschließlich der hier unternommenen – jedenfalls noch als zaghafte Versuche.