Eine babylonische Begriffsverwirrung hat sich im deutschen Bildungssystem breit gemacht. Wer kann den Unterschied noch plausibel auseinanderdividieren zwischen Oberschule, Realschule plus, Hauptschule, Mittelschule, Neue Oberschule, Gemeinschaftsschule, Gesamtschule, Ganztagsschule, Stadtteilschule, G8, G9 oder gar G8GTS? Bei 16 Ländern und ergo sechzehnfacher Kultusbürokratie inzwischen ein Ding der Unmöglichkeit.
Neben diesen bunten Strauß an Schulformen tritt ein Wildwuchs an Fächern: Grundfach, Leistungsfach, Profilfach, Seminarfach oder Kurs auf grundlegendem oder erhöhtem Anforderungsniveau. Eine Vergleichbarkeit der Bildungswege ist erst nach entsprechender Übersetzung möglich. Da gilt es für gewiefte Übersetzer das jeweils Eigene im jeweils Anderen zu erkennen.
In Koblenz versuchten dies etwa 1.300 hochmotivierte Musiklehrer aus ganz Deutschland beim 3. Bundeskongress Musikunterricht unter dem Motto „Bildung – Musik – Kultur: Musik erleben – Musik verstehen“. Ein Motto, das auch auf den Fusionsprozess eines ehemalig praxisorientierten mit einem ehemals gymnasial-orientierten Schulmusikverband anspielt. Während die beiden vorausgegangenen Kongresse in 2012 und 2014 noch in Kooperation von AfS und VDS veranstaltet wurden, war dieser jüngste der erste des vereinigten, vor zwei Jahren aus VDS und AfS hervorgegangenen Bundesverbands Musikunterricht (BMU) mit seinen 16 neuen Landesverbänden. Nach den guten Erfahrungen mit der Bundesschulmusikwoche im Jahr 2013 war der Verband auf Einladung des Koblenzer Oberbürgermeisters Joachim Hofmann-Göttig und dessen Kulturdezernentin Margit Theis-Scholz erneut in die Stadt am Deutschen Eck gekommen, wo ihn allerdings eine herbe Enttäuschung erwartete: Im Gegensatz zu den Bundeskongressen in Thüringen und Sachsen, wo es 2012 und 2014 noch Landeszuschüsse im fünfstelligen Bereich gegeben hatte, hielt sich das rheinland-pfälzische Bildungsministerium diskret zurück und ließ Verband und Koblenzer OB allein auf den Kosten sitzen.
Die etwa 400 Veranstaltungen fanden dennoch statt und widmeten sich größtenteils der Unterrichtspraxis mit scheinbar unendlichen Möglichkeiten, Musik zu erleben und zu reflektieren. Eingerahmt von diesen Weiterqualifizierungsangeboten fand auch die Mitgliederversammlung statt, die neben den notwendigen Vereinsregularien das Positionspapier des Bundesverbandes „Für musikalische Bildung an Schulen“ mit einer Agenda 2030 beschloss. Das Papier dient gleich mehreren Absichten. Zum einen der Selbstvergewisserung des neuen Verbandes: Wer sind wir und was wollen wir? Das BMU-Papier geht von einer Situationsanalyse des bundesdeutschen Musikbildungssystems aus, bleibt aber nicht dabei stehen, sondern impliziert die zentralen Aufgaben des BMU und seiner Landesverbände: die Weiterentwicklung eines qualifizierten Musikunterrichts und der Lehrerausbildung sowie bildungspolitische Ziele und deren Umsetzung in Politik, Schule, Hochschule und mit außerschulischen Partnern.
Das frisch beschlossene neue BMU-Grundsatzpapier wurde tags darauf von einer Expertenrunde auf seine Tauglichkeit abgeklopft. nmz-Herausgeberin Barbara Haack moderierte eine Gesprächsrunde mit BMU-Vizepräsidentin Dorothee Barth, Hochschulpräsidentin Susanne Rode-Breymann, Musikratspräsident Martin Maria Krüger und Musikschulverbandsgeschäftsführer Matthias Pannes.
Man war sich einig: Der BMU hatte mit seinem Papier eine „nicht hintergehbare Norm“ verabschiedet. Doch schon bei der ersten Kapitelüberschrift „Musik in Gesellschaft und Kontext“ wurden die verschiedenen Blickwinkel deutlich, aus denen man Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule betrachten kann. Konsens herrschte wiederum im Hinblick auf die große Konkurrentin, die leider nicht auf dem Podium vertreten war, aber heute letztlich das Curriculum der Schüler (vor-)schreibt: die Musik- und Medienindustrie. Das einmütige Fazit lautete: Für die nur scheinbar machtlose Erziehungs- und Ausbildungsinstitution Schule stellt das Faszinosum des künstlerischen Handelns im Zentrum eines guten Musikunterrichts gegenüber der Industriemusikware ein unbezahlbares Gut dar.
Stichwort bezahlbar: Unterrichtsausfall, kein Fachunterricht durch ausgebildete Musiklehrer, kein Abitur mit Musik als Prüfungsfach – diese altbekannten Probleme, die teils direkt, teils indirekt im Papier angesprochen sind, wurden auf dem Podium, aber auch in den vielen weiteren Gesprächsrunden des Kongresses angesichts zahlreicher neu zu beschulender Flüchtlingskinder von den Schlagwörtern kulturelle Vielfalt, Wertedebatte, kulturelle Identität und Inklusion überlagert.
Qualifizierter Musikunterricht ist freilich nur vorstellbar, wenn die Ausbildung stimmt. Bezeichnungen für die 2. Phase der Lehramtsausbildung wie Studienseminar, Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung, IQSH oder Landesinstitut für Lehrerbildung schließen hier nahtlos an den eingangs skizzierten sechzehnfachen Begriffswirrwar an. Als eigentliches Problemfeld kristallisierte sich in Koblenz die so genannte 3. Phase der Lehrerausbildung heraus. Diese wird im Lehrerberuf zukünftig noch wichtiger werden, und da genügt es nicht, wenn Kultusministerien sagen – wie im Fall Rheinland-Pfalz geschehen –, die Freistellung der Musiklehrer für Weiterbildung und Kongresse sei doch schon Förderung genug. Not tut eine lebenslange Verpflichtung zur Weiterbildung.
Der Bildungsreport der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) hat erst kürzlich die Situation an deutschen allgemeinbildenden Schulen kritisch bewertet. Rechnerisch seien die Ausgaben pro Schüler hierzulande zwar gestiegen, vor allem deshalb, weil die Klassengrößen verringert wurden. Im internationalen Vergleich sei aber wenig dafür getan worden, die Unterrichtsqualität zu verbessern. Positiv bewertete der OECD-Bericht, dass in Deutschland die Bezahlung der Lehrpersonen mit dem Alter steige und international durchaus wettbewerbsfähig sei. Bemängelt wurde, dass sie sich aber zu wenig an Qualifikation und Leistung orientiere.
Die Misere beginnt jedoch nicht erst in der 3. Phase, sondern ganz am Anfang beim leidigen Thema Eignungsprüfung für Schulmusikstudenten, die angesichts einer wachsenden Vielfalt von Schulformen und -kooperationen viel zu unflexibel ist und dringend einer Reform bedarf – und zwar einer sechzehnfachen.