Was soll Menschen von heute diese Geschichte vom Kriegsherren Idomeneo, der Gott Neptun verspricht, für eine glückliche Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg den ersten Menschen in der Heimat zu opfern? Und prompt ist dieser erste sein Sohn… Ist das nicht theatralischer Quark, ins antike Kostüm verpackt und mit zugegeben beeindruckender Musik des 25-jährigen Mozart aufgeladen?
Doch klassische Mythen beweisen eben ihre zeitlose Gültigkeit, wenn ein kluges Team sie theatralisch neu liest – und Zeitgenossenschaft entdeckt. Denn: kann dieses Opfergelübde Idomeneos nicht das posttraumatische Belastungssyndrom eines Soldaten nach 10 Jahren Krieg sein, psychisch übersteigert als unausweichlicher Zwang durch „höhere Wesen“? Diese Realität – seit Vietnam über Kosovo, Afghanistan bis Syrien bekannt – hat Regisseur Jan Philip Gloger inszeniert. Dirigentin Julia Jones ließ dazu das Frankfurter Museumsorchester Mozarts Partitur mit Biss und Kante spielen: da knallte die Kesselpauke; da rauschten die Streicher furios zu den extremen Gefühlsausbrüchen, um dann mit überlegt und hörbar differenziert gestalteten Übergängen die Gegenwelt sanft zu umspielen, wenn es um die Versöhnung mit den gefangenen Trojanern, ihre Freilassung und den erhofften Frieden – nicht zuletzt durch die Liebe des inzwischen erwachsenen Königssohnes Idamante zur trojanischen Prinzessin Ilia - geht. Das gelang musikdramatisch packend.
Dieser musikdramatische Fluss gelang auch, weil sich Regisseur Gloger von Franziska Bornkamm ein dramaturgisch stupend mitspielendes Bühnenbild bauen ließ. Auf einer diesmal nur bühnengroßen – der sonst einzigartig dimensionierten – Drehbühne erwartete das Publikum ein moderner, die halbe Bühnentiefe einnehmender Hallen-Raum in hellem Holzfurnier, in der Mitte eine große Doppeltüre. Drehbühnenschwenks zeigten dann dahinter den gleichen Raum, mal handlungsergänzend dekoriert – oft als „die andere Seite der Medaille“. Während der Ouvertüre nahm Idomeneo Abschied von seinem kleinen Sohn in Matrosenuniform und schenkte ihm ein kleines Segelschiffchen, das als Erinnerungssymbol in vielen Szenen wiederkehrte. Dann wurde der König in eine schwarze “spezial-forces“-Montur eingekleidet und reihte sich in die durch die aufgehende Doppeltür hinten sichtbar bereits kämpfenden Truppen ein.
Wenig später schwenkte der ganze Raum zum ersten von vielen Malen und zeigte die Kehrseite jedes Krieges: eine Jubelfeier war angesetzt, die durch die Propaganda verführte Bevölkerung durfte Fähnchen und Herrscherbilder schwenken, während durch die Portaltür verdreckte und verängstigte Trojaner hereingetrieben wurden. Söhnchen Idamante war zum feschen jungen Thronfolger herangewachsen, doch statt der gefährlich von ihrem Familienschicksal gezeichneten Elektra liebte er die sensibel leidende Trojaner-Prinzessin Ilia – zunächst unglücklich.
Denn der gezeichnet heimkehrende Idomeneo glaubt ja, den Sohn opfern zu müssen: Gloger hat dieses Kriegstrauma in einer hinzuerfundenen, wüsten Alptraum-Figur als „alter ego“ personifiziert und ließ in etlichen Alpträumen auch militärische Spezialkommandos durch den sich drehenden Raum geistern. Der durch Drehung und jeweils wechselnde Kleinarrangements im Durchblick des Türportals ständig mitspielende Raum lieferte in der Mitte des Dramas ein schlagendes Bild: da sank auf der einen Seite der Rückwand Idamante unglücklich zusammen, Raumschwenk – und genau gegenüber an der Wand hockte der unglückliche Vater – das macht der Krieg aus Mensch und Familie.
Die schreckliche Opferszene durchlebte Idomeneo schon auf dem Krankenbett als medikamentöses Delirium: alles im antiken Kostüm samt Säulen-Dekor, Idamante trat dem Vater erneut als Kind gegenüber – die Welt von Gestern. Auch wenn die abschließende Promi-Hochzeit mit allem Glamour inszeniert erschien: ein Drehbühnenschwenk zeigte abermals eine Kriegswüste, das Abbild des Innenlebens der Figuren.
All das setzte eines jener schon sprichwörtlichen „Frankfurter Ensembles“ mal packend, mal anrührend um. Roberto Saccàs Idomeneo begann (aufgrund eines realen Muskelrisses) schon mit Krücke und markantem Tenor, um im (inszenierten) Rollstuhl zu enden. Mit Martin Mitterrutzner wächst in Bühnenerscheinung und zarten Lyrismen eine österrisch-deutsche Tenor-Hoffnung heran – verständlich, dass die reizende Ilia von Juanita Lascarro verliebt schwelgte. Elza van den Heever erntete für den enttäuschten Rachefuror der verschmähten Elettra ebenso Bravo-Stürme wie Kenneth Tarver für das gekonnt gestylte Image des königlichen Kabinettchefs Arbace – um nur die wichtigsten eines perfekt rollendeckenden Gesamtensembles bis hin zum differenziert agierenden Chor zu nennen.
Uneingeschränkter Jubel für den Mythos von Gestern und seine bestürzende Gültigkeit für Heute.