Das Gesicht eines noch nicht in langjähriger Routine aufgehobenen Konzertsängers in den Momenten vor dem ersten Einsatz gleicht einem aufgeschlagenen Buch: Nervöse Selbstvergewisserung, direkte Kontaktaufnahme mit dem Publikum, bewusstes Einnehmen einer Rolle, oft auch eine diffuse Mischung aus alldem ist darin zu sehen. Und nicht selten folgt eine Überraschung: ein erster Ton, der plötzlich eine ganz neue Verbindung in den Zuschauerraum schafft, ein Schlüsselwort, das einen direkt in die Theatralik der ansonsten aus dem Kontext gerissenen Arie hineinzieht, eine Geste, die dem Klang eine zusätzliche Körperlichkeit verleiht.
Vieles davon war im Abschlusskonzert der zweiten Internationalen Meistersinger Akademie im Neumarkter Reitstadel zu erleben. Erneut hatte die künstlerische Leiterin Edith Wiens zusammen mit einem Team renommierter Dozenten jungen Vokalisten auf dem Sprung zur internationalen Karriere sechs Wochen lang intensives Coaching und zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten geboten. Zu den heuer zum zweiten Mal teilnehmenden Künstlern gehörte Nathalie Mittelbach: Sie glühte in Händels „Where shall I fly“ vor Intensität und auch sprachlich gut kontrollierter Präsenz, einzig der ruhige Mittelteil hätte im Timbre noch besser abgesetzt sein können. Avery Amero unterstrich die Hosenrolle des Rinaldo in „Cara sposa“ mit herbem, eindringlichem Timbre; nicht optimal sprach allerdings die mezza voce bei der Reprise des ersten Teils an. Als Operntraumpaar hatten Wallis Giunta und John Brancy schon im vergangenen Jahr geglänzt. Bernsteins „West Side Story“ schien den beiden nun wie auf den Leib geschrieben, wobei Brancy in „Maria“ und „Tonight“ mit klingendem Falsett betörte.
In dessen Rolle aus dem Vorjahr (Guglielmo aus Mozarts „Cosí fan tutte“) schlüpfte nun Martin Hässler. Das „Donne mie“ gelang ihm mit makelloser Linie, die Charakterisierung hätte etwas lebendiger sein können. Hinreißend das Schwesternpaar aus derselben Oper: Rachel Bate und Rachael Wilson lieferten in „Ah, guarda sorella“ ein Kabinettstück fein nuancierten, innigen Zwiegesangs ab. Auch ihre jeweiligen Soli zählten zu den absoluten Höhepunkten des langen, aber nie ermüdenden Abends. Vor Wilsons mit originellen Verzierungen bravourös gespickter Rosina-Arie aus Rossinis „Barbier“ hatte Rachel Bate – ihrem souveränen Auftreten merkt man die Erfahrung aus dem Kölner Opernstudio an – eine betörende „Lohengrin“-Elsa gegeben. Ihrem „Einsam in trüben Tagen“ war die Vision des ersehnten Helden auf faszinierende Weise klanglich eingeschrieben. Die Höhe meisterte sie mit müheloser Strahlkraft.
Kaum minder beeindruckend das Wagner-Legato, mit dem der aus Regensburg stammende Benjamin Appl den „Abendstern“ aus dem Tannhäuser besang. Zusätzliche Fülle aus der Tiefe wird er sicher noch entwickeln können. Ein wenig zu viel des Guten legte in dieser Hinsicht Szymon Komasa in das „Warm as the autumn light“ aus Douglas Moores „The Ballad of Baby Doe“; überragend dosierte der Bariton dafür die Klangentfaltung in der Onegin-Schlussarie. Baritonal auch das Timbre James Edgar Knights, was dem „Questa o quella“ aus Verdis „Rigoletto“ eine aparte Färbung verlieh. Beim zweiten Tenor des Abends, Nathan Haller, kontrastierte der verführerische Schmelz des mit Augenzwinkern servierten „Dein ist mein ganzes Herz“ mit dem Charme seines Cordsakkos…
Noch höher war im zweiten Teil das Niveau bei den Frauenstimmen: Virginie Verrez hielt die lange Briefszene aus Massenets „Werther“ bewundernswert unter Spannung, Lussine Levoni brillierte trotz leichter Probleme beim Wechsel in die eher rezitativischen Passagen im „Regnava nel silenzio“ aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“. Karen Vuong, deren Stimme für die Musetta-Arie aus „La Bohème“ vielleicht etwas zu schwer ist, setzte zusammen mit Benjamin Appl den dirndlbeschürzten Schlusspunkt: Herrlich albern war ihr halbszenisches „Wenn der Toni mit der Vroni“ aus Fred Raymonds „Saison in Salzburg“, bevor wie im vergangenen Jahr der wehmütige Chorsatz „May the road rise to meet you“ angestimmt wurde und die Teilnehmer sich schließlich mit einem ausgelassenen „So long, Farewell“ aus „The Sound of Music“ verabschiedeten.
Nur ungern ließ das jubelnde Publikum im Reitstadel sie ziehen – bis zum nächsten Jahr. Denn die „IMA“ scheint sich – so der Tenor der Grußworte der Kooperationspartner Musikhochschule Nürnberg und Stadt Neumarkt – zum Erfolgsmodell mit langer Laufzeit zu entwickeln.