Während andere Produktionen der Bayreuther Festspiele viel länger auf dem Programm stehen, und – wie etwa Marthalers „Tristan“-Inszenierung – diverse Wiederaufnahmen erleben, wird dies leider bei Stefan Herheims Inszenierung des „Parsifal“ nicht der Fall sein, obgleich diese, wie keine andere Inszenierung jemals zuvor, zugleich die vielfältigen Schichten von Wagners Weltabschiedswerk parallel erzählt und obendrein noch die Rezeptionsgeschichte dieses Bühnenweihfestspiels, die auch eine Zeitreise deutscher Geschichte von 1882 bis 1951 inkludiert.
Dieser geniale Regiestreich von Stefan Herheim, ein Publikumsmagnet, der allgemein bejubelt wird, hat nun sein Soll von fünf Spielzeiten erreicht und steht in diesem Jahr letztmals in Bayreuth auf dem Programm, da eine Neuinszenierung durch den bildenden Künstler Jonathan Meese für 2016 bereits angekündigt ist. Zuvor aber wird diese Produktion in 100 deutschen Kinos und im Fernsehen zu erleben sein.
An der Bayreuther Zeitreise, der Gleichsetzung von Gralstempel und Wahnfried, als einer permanent mutierenden Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt seiner Protagonisten, hat Stefan Herheim weiter gearbeitet und nochmals kleine Modifikationen angebracht.
Rund um das zentrale Bett überschneiden sich permanent die Handlungsstränge des von seiner Mutter Herzeleide sexuell missbrauchten Kindes Parsifal über dessen Verführung durch den Transvestiten Klingsor und die Hinneigung zum Mutterersatz Kundry. Ein den Tod der Herzeleide begleitender Kaplan und ein jüdischer Arzt sind auch die ersten Gralsritter der zunächst beflügelten Gralsgesellschaft der Bayreuther Patronate des Kaiserreichs, die den Neugeborenen im Gralstempel beschneiden und als erhofften Führer und Erlöser herumreichen, während sie im Wahnfried-Garten genussvoll der Geschichte vom Bau des Heiligtums, in dem sich die Brüder einen, lauschen, wozu das Auditorium des Festspielhauses erleuchtet wird. Im Garten von Wagners Wahnfried lässt die gemischte, auch mauschelnde Gesellschaft, wie damals üblich, persönliche kleine Gralskelche aufleuchten und ergötzt sich am Rande des Brunnens sexuell an der Erzählung über Klingsors Wundergarten. Amfortas nährt die untote Herzeleide aus dem Gralskelch, und die Männer, die ihre Flügel gegen Tornister eingetauscht haben, füllen den Gralswein in ihre Feldflaschen um, nehmen Gralsbrot als Proviant mit und ziehen begeistert in den ersten Weltkrieg.
Kriegsverletzt genießen sie die eindeutigen Zuwendungen der Krankenschwestern eines Reichs, das Klingsor in Strapsen als Meister des Films regiert, mit Tingeltangel- und Animierdamen bei Wasserspielballett im Brunnen des Wahnfriedgartens. Kundry, die sich Parsifal als der blaue Engel aus Sternheims Film nähert, geht dann mehr zur Sache geht als weiland Marlene Dietrich. Nachdem der Ritter- und kampfbegeisterte Knabe Parsifal sich mit einem Schwert am Abschlachten der versehrten Ritter beteiligt hat, hüllt ihn der Päderast Klingsor in seine schwarzen Flügel und taucht mit ihm im Bett ab. Der erwachsene Parsifal springt vom Balkon Wahnfrieds über einen Leichenberg Erschlagener zu den ihn sich um ihn reißenden Solo-Krankenschwestern. Dann findet er sich wieder am Ort seiner Jugend, in Wahnfrieds Halle. „Dies alles hab’ ich nun geträumt“: er reitet auf seinem Holzpferd und schlägt den Bogen von Kundrys Blutungen zur blutenden Wunde des Amfortas.
Wie kaum ein anderer Regisseur verdeutlicht Herheim auch das Vorleben Kundrys als Herodias, die den Gekreuzigten verlacht, der aber auch Amfortas, als den Vertreter der über ihn errichteten Kirche die Wunde geschlagen hat und der Kundry mit dem Fluch belegt hat, alle Männer zu begehren und verführend ins Verderben zu stürzen. Dieser Fluch trifft nun politisch auch eine bedrohte, Hilfe suchende jüdische Gemeinschaft, die sich schutzsuchend an Parsifal wendet, denn inzwischen hat ein braunes Regime seine roten Hakenkreuzfahnen aufgezogen und selbst der Knabe Parsifal ist in HJ-Uniform involviert; er schleudert den Speer gegen den erwachsenen Parsifal. Der aber zerstört mit dem so gewonnenen Requisit der alten Gralswelt die Reste der auf Wagners Grab errichteten Modell-Gralsburg und vernichtet damit auch das Dritte Reich, dessen SS-Schergen im Sterben noch sinnlos um sich feuern.
Vor einem zerstörten Wahnfried dann der Neubeginn der Festspiele, auf einer Festspiel-Bühne auf der Festspiel-Bühne, in der Kargheit „Neu-Bayreuths“, mit Trümmerfrauen als Karfreitagszauber und den Hinweiszetteln der Enkel, von politischen Diskussionen auf dem Festspielhügel Abstand nehmen zu wollen, „Hier gilt’s der Kunst“, wie Siegfried Wagner es bereits 1924 auf Hinweiszetteln gefordert hatte, nachdem das Publikum im Festspielhaus das Deutschlandlied angestimmt hatte.
Der Schlussakt dann im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, der – nach Schließen der Wunde des Amfortas durch Parsifal – am Grunde geflutet wird (das ehemalige Wasserwerk in Bonn!). Im Rundspiegel sieht man den Bundesadler, der nun jene Position einnimmt, die im ersten Aufzug ein Schwan, im zweiten der Adler mit Hakenkreuz inne hatte, die beide, ausgelöst durch Parsifal, zu Boden gestürzt waren. In der internationalen Öffnung Bayreuths und einem globalen Denken wird daraus eine Weltkugel, und darüber flammt das erleuchtende Symbol der Friedenstaube auf. An der Rampe aber, an Wagners Grab, lauscht den Erlösungsklängen das neue Paar Gurnemanz und Kundry mit einem Knaben-Parsifal als Familie der Fünfzigerjahre, Eltern mit einem Kind.
Während Regisseur Stefan Herheim beim Schussapplaus ausschließlich bejubelt wird, mussten Susan Maclean als Kundry und Burkhard Fritz in der nochmals neu besetzten Titelrolle bereits nach dem zweiten Aufzug auch einige Buhrufe einstecken. Nicht ganz fair: zwar blieb die Mezzosopranistin Maclean zwei Spitzentöne schuldig, doch klingt sie in dieser Partie weitaus besser denn als Ortrud (wofür sie nur Zuspruch geerntet hat) und ist hinreißend in ihrem Spiel wechselnder Erscheinungsformen als Dienstmädchen, vielfältige Verführerin und wiedergeborene Herodias. Und Burkhard Fritz, wohl bereits in Vorproben für den neuen „Ring“, bietet stimmlich wenige Facetten, steht die Partie aber gut durch. Die mit Abstand beste gesangliche Leistung brachte der faszinierend gestaltende, stets textverständliche Kwangchul Youn als Gurnemanz. Souverän in ihrer Leistung Detlef Roth als Amfortas, Thomas Jesatko als Klingsor, Arnold Bezuyen und Christian Tschelebiew als Gralsritter, Julia Borchert, Ulrike Helzel, Clemens Bieber und Willem Van der Heyden als Knappen. In vielfältiger Rollengestaltung stimmlich brillant der von Eberhard Friedrich einstudierte Festspielchor (fraglich nur die falsche Lautung des Wortes „selig“).
Erstmals am Bayreuther Festspielpult Philippe Jordan, mit insgesamt etwas breiteren Tempi als sein Vorgänger Gatti, mit einer gleichermaßen szenisch kongruenten wie auch eigene Schwerpunkte stehenden Lesart. Der überlange, dem Lachen Kundrys nachlauschende Einschnitt nach deren „Ich sah Ihn – Ihn – und lachte!“ zeigt die Welten der Interpretation zwischen Thielemann und Jordan. Der Erstere macht Agitations-Generalpausen, wo Wagner sie nicht komponiert hat, der Zweitere macht die von Wagner komponierte Generalpause zu einem beklemmenden Erlebnis. Einige Buhrufe, die sich in den begeisterten Zuspruch für den jungen Dirigenten mischten, sind wohl leider politisch motiviert.
Ein Trostpflaster für den Abschied von dieser Produktion: diese „Parsifal“-Inszenierung wird am 11. August live in 100 deutsche Kinos übertragen – und ist am Abend auch auf Arte zu sehen.
Letzte Aufführungen: 5., 11., 16., 22. und 28. August 2012
und am 11. August live in 100 Kinos der Bundesrepublik, sowie in Arte TV.