Die Jazz & Klassik Tage in Tübingen gibt es nun seit mehr als zehn Jahren. In der dritten Oktoberwoche präsentieren sie in etwa 70 Konzerten in Stadt und Region Künstler aus Tübingen und der ganzen Welt. Durchgeführt werden die Konzerte von mehr als 60 verschiedenen Veranstaltern: Vereinen, Kirchen, Gaststätten, Gewerbetreibenden oder den Künstlern selbst – ein Festival von unten gewissermaßen, das sich auf einem schmalen Grad zwischen Kunst und Innenstadtbelebung bewegt.
Gerade weil es kein Spezialfestival ist, weil unterschiedliche Hörergruppen angesprochen werden, sind die Jazz & Klassik Tage dazu prädestiniert, den Besucher einmal über seinen persönlichen Tellerrand schauen und seiner Entdeckerfreude freien Lauf zu lassen.
Ein Juwel zwischen dem teils recht modischen Glitter des Tübinger Stadtfestivals war die Aufführung von „The Medium“, einem Monodram des britischen Komponisten Peter Maxwell Davies durch die Mezzosopranistin Anne-May Krüger im Landestheater Tübingen. „The Medium“ ist das letzte von drei Vokalwerken, in denen sich Davies mit dem Phänomen Wahnsinn auseinandersetzte. Sind die „Songs for a Mad King“ von 1969 noch durch die Komposition mit extremen instrumentalen Spielweisen bzw. Gesangsweisen dominiert, so legte Davies mit „The Medium“ der Sängerin ein Stück vor, in dem sie mit Belcanto, Lied-Miniaturen, großem Espressivo und natürlich zeitgenössischen Gesangsformen brillieren kann. Das vierzigminütige Monodram ist eine echte Tour de Force für jede Sängerin: eine großartige Wahnsinnsarie ohne Oper drumherum.
In einer 50-minütigen Interpretation demonstrierte Anne-May Krüger alle Fassetten ihrer Kunst und fesselte das Publikum bis zur letzten Minute. Ihr Regisseur Marcelo Cardoso Gama verzichtete auf „Wahnsinns-Gänge“ im Raum, auf theatrale Einlagen und überhaupt auf alles Überflüssige. Verrücktheit als Verismo: Krüger agierte auf einem Podest nicht größer als ein Dirigentenpult und dennoch genug Raum für sie, um den Wahnsinn nach und nach in sich ausbrechen zu lassen - und die Zuseher nach Art der „Verrückten“ mit hineinzuziehen in ihre eingebildete Welt.
Maxwell Davies schrieb über seine Protagonistin: „Ist sie ein Medium? Oder ist sie eine wissende Betrügerin? Von wem scheint sie besessen zu sein – ist es ihr wahres ich, das sich da gegenüber der Kranken und konfusen Kreatur, die wir sehen, zeigt? Ist sie womöglich eine Patientin in der Psychiatrie, die sich auf die nächste Elektrotherapie oder Schlimmeres vorbreitet?“
Anne May Krüger verwies mit ihrer Interpretation der Rolle noch auf eine weitere Lesart: Bei ihr stand das Medium für die Künstlerin selber, die zum Medium von Komponist, Regisseur und Zuschauer wird. Krüger machte aus „The Medium“ ein Operntheater über Operntheater – und das alles mit einer Stimme, die nachklingt.