Paris, Opéra Bastille, 13. März. – Zum Finale ist die Bühne voll. Die Compagnie, nicht weniger als 154 Tänzer, vollständig angetreten, zu Paaren formiert, Frauen auf den Schultern der Männer. Was frei ist an Extremitäten hängt bis in die gespreizten Finger wie ein Wald von Sendemasten in der Luft. Ein Strahlenkranz von suggestiver Kraft. Noch in den verklingenden Schlussakkord brandet der Beifall. Kein Zweifel: Endlich hat auch Paris Mahlers Dritte Sinfonie als Choreografie von John Neumeier ins Herz geschlossen.
Auch? Ältere Ballettfreunde erinnern sich: Die Uraufführung liegt eine kleine Ewigkeit zurück. 1975 hat John Neumeier seinen Hamburger Mahler-Zyklus mit der Dritten Sinfonie eröffnet. (Jetzt fehlt noch die Zehnte.) Ein Coup de foudre damals, ein Überraschungserfolg, dessen Kraft weiterwirkt. Bis heute. Dritte Mahler – sie ist zum Markenzeichen des Hamburg Ballett geworden, worüber sein Schöpfer sehr eifersüchtig wacht. Keiner anderen Compagnie hat Neumeier diese Choreografie anvertrauen wollen. Bis jetzt.
Woher der Sinneswandel rührt, wissen selbst engste Vertraute wie Klauspeter Seibel nicht zu sagen. Dabei ist Seibel als Dirigent der Pariser Premiere 2009 wie der Hamburger Uraufführung vor 34 Jahren (als Einspringer für Leonard Bernstein) ganz und gar ins Neumeiersche Herz-Rhythmus-Zentrum eingebunden. Allen kritischen Anfragen, allen nicht selten polemischen Anwürfen zum Trotz (Zweifel, die Seibel durchaus versteht), ist die Liebe zu dieser Produktion geblieben. Die auf den Ausdruck von Menschlichem gehende Art, in der Neumeier seine Welt mit der Welt Gustav Mahlers korrelliert, hat in ihm eine Faszination geweckt, die ungebrochen scheint.
Dabei kennt Seibel die Wunde des „vertanzten Mahler“ nur zu gut, legt sogar selber den Finger hinein, indem er freimütig gesteht, dass „es dem Komponisten sicher nicht gefallen“ hätte, andernfalls er eben Ballett- und Konzertmusik geschrieben hätte. Und doch. Für Seibel geht das Experiment auf. Keinesfalls aber – da wehrt er sich vehement –, stehe die Musik im Dienst der Bühne. Beide, Musik und Bühne, darauf beharrt er, sind eigenständig. Nur so würde es auch funktionieren.
Soweit die Theorie. In der Praxis bleiben Fragen. Denn so sehr das beschworene wechselseitige „Geben und Nehmen“ (Seibel) offenkundig ist, der Einfluss des Dirigenten ist hier ein relativer. Bevor Seibel beispielsweise dem Orchester das Zeichen zum Eintritt in den 4. Satz geben kann, hat er abzuwarten, bis die stumme Choreografie oben zu Ende ist. Ein Pas de Trois, von Neumeier 1974 auf den Tod John Crankos entworfen, der seinerseits zur Keimzelle dieser Choreografie geriet.
Doch beckmessern wir nicht. Mahlers Dritte mit einer spritzigen, einer juvenilen Pariser Truppe (Durchschnittsalter 25) zu erleben, ist ein Kunst-Erlebnis, zugleich eine glänzende Bestätigung für die Vision eines experimentierfreudigen Choreografen, der Neumeier 1975 ja zweifellos gewesen ist. Was Paris angeht, so hat Neumeier seine bewährte Choreografie in der Substanz beibehalten. Und doch, so Dirigent Klauspeter Seibel, hat es trotz ellenlanger Vorbereitung seine Zeit gedauert, bis der Funke in die Compagnie übergesprungen sei; eigentlich erst in der Premiere. Erst dann habe die Truppe begriffen, welche Energie ihr da aus dem Orchestergraben heraufströmt. Was will man mehr?
Andererseits – der Assoziationsreichtum gerade der Dritten, die im Großen wie im Kleinen unablässig Strahlungsenergie aussendet, stellte die Tänzer auch vor so manche Probleme. Eben noch dabei, zu Ende zu führen und schon konfrontiert sein mit der nächsten Welle, die die Vorangegangene einfach überlagert. Irgendwie müsste, wer Mahler vertanzen will, darauf eine Antwort geben können.
Letzte, wichtigste Anmerkung gilt der Musik. Das Opern-Orchester spielte mit der Begeisterung derjenigen, die man unfreiwillig auf Entzug gesetzt hat und die nun gewillt sind, alles nachzuholen. Hier und jetzt. Bewegend, herzergreifend vor allem der Schlusssatz. Unglaublich, wie ein Orchester, das diese Musik ganz neu erlernen musste, die dynamischen Kurvenfahrten, all die Schwenks zwischen Nah- und Weitwinkel meistert und dazu ein geheimnisvoll leuchtendes Kobaltblau hineinmischt. Eine beglückende Erfahrung – auch für den Dirigenten. Anderntags spricht ein immer noch ergriffener Klauspeter Seibel vom Höhepunkt seiner Karriere. C'est ça. Um herausragenden Mahler zu hören, muss man heute offenbar ins Ballett gehen. Nach Paris.