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Titelseite der nmz 2011/05.
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Was wir von Kindern lernen können

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Moritz Eggerts Plädoyer für eine ungezähmte Musikerziehung
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Dass Deutschland seit der PISA-Studie 2001 unter einem „Bildungsschock“ steht und seitdem einen Minderwertigkeitskomplex von der Größe der Antarktis entwickelt hat, ist unumstritten. Das Volk der Dichter und Denker nur internationaler Durchschnitt? Das konnte und durfte nicht sein. Zahllos sind seither die Versuche, unsere Bildung wieder auf Vordermann zu bringen. [aus nmz 5-11]

Im Rahmen dieser Panik – ob berechtigt oder nicht sei dahingestellt – wurde erkannt, dass auch die musikalische Bildung zur Entwicklung eines Menschen gehört, daher sind musikalische „Education“-Projekte, Jugend- und Kinderförderung wie auch Vermittlungsprojekte von Orchestern, Opernhäusern und Schulen seither „à la mode“. Wenn ich mir zum Beispiel meine eigenen Aufträge aus den letzten Jahren anschaue, so ist deutlich zu bemerken, dass eine wachsende Anzahl in irgendeiner Form mit solchen Initiativen zu tun hat. Da macht man natürlich gerne mit, vor allem da die Neue Musik in der Vergangenheit diesen Bereich meist sträflich vernachlässigt hat. Ganz anders als zum Beispiel frühere Generationen von Komponisten, für die das Komponieren von Musik verschiedenster Schwierigkeitsgrade (also eben auch für Laien oder Kinder) noch nicht mit irgendwelchen verkrampften ästhetischen Ansprüchen besetzt war.

Es hat sich tatsächlich viel verändert. Bei jeder Uraufführung muss ich mir inzwischen zusätzliche Termine freihalten, um das Stück auch in einer örtlichen Schulklasse vorzustellen. Kinderradios rufen an und machen Sendungen über das „Komponieren“. Konzerteinführungen – auch für Erwachsene – sind quasi Pflicht. Clevere Dramaturgen haben inzwischen auch erkannt, dass das Fundraising für schwierige (=zeitgenössische) Projekte meistens erheblich erleichtert wird, wenn eine pädagogische Komponente enthalten ist. Muss man da zynisch werden?

Die Frage ist nicht, ob das alles falsch ist. Ganz gewiss ist es für keinen Menschen auf dieser Welt schlecht, sich von klein auf mit Musik zu beschäftigen. Zu singen und sich zu Musik zu bewegen gehört so essentiell zur Entwicklung eines Kindes wie der Spieltrieb – beim Spielen eines Instruments kommt idealerweise beides zusammen. Wahrscheinlich ist Musik selber sogar von Kindern beim Spielen erfunden worden – ihre erwachsenen Steinzeitvorfahren hatten vor lauter Jagen und Versorgungsnöten dazu sicher eher wenig Zeit. Den Kindern gehört also die Musik – und das schon immer.

Die Frage ist aber, ob unsere gesam-te Musikausbildung, vielleicht einem panischen Wiedergutmachungstrieb folgend, nicht über das Ziel hinausschießt. Da werden Musik in zweifelhaften Studien wahre Wunderkräfte zugeschrieben. Kreative Beschäftigung fördert sicher die Intelligenz, aber wenn es nach manchem Wissenschaftler geht, macht Musik aus Kindern wahre Übermenschen, denen vor lauter Schläue und wundersamer sozialer Kompetenz der Kopf zu platzen droht. Bestimmte Bildungsklischees haben sich in den Köpfen von Eltern schon so festgesetzt, dass sie nichts mehr fürchten, als dass ihr Kind gegenüber den ganzen Wunderkindern der anderen zurückgeblieben sein könnte – wenn es also nicht mindestens drei Instrumente auch auf dem Kopf stehend beherrscht. Unerbittlicher Drill schon für Kleinstkinder ist die Folge.

Der Stundenplan eines Kindes musikalisch überambitionierter Eltern kann es inzwischen mit dem eines Managers aufnehmen. Hier musikalische Früherziehung in der Gruppe, dort Instrumentalunterricht für Frühbegabte. Hinzu kommen noch Chor, Ballett und bei den besonders Ehrgeizigen dann auch noch Leistungssport und Extra-Nachhilfeunterricht. Zuhause setzt sich dann Mama oder Papa noch neben das Klavier und kontrolliert das tägliche Übepensum mit der Stoppuhr. Eine gute Freundin schaute mich neulich ganz erschreckt an, als ich ihr gestand, dass mein kleiner Sohn (drei Jahre) noch keinen regelmäßigen Klavier- oder Geigenunterricht bekommt, sondern einfach noch Kind sein darf. In ihren Augen hatte ich ihn schon zum ewigen Versager verdammt!

Unsere Bildung wirklich zu verbessern, heißt die Perversion solchen Denkens zu entlarven. Dass hier etwas ganz Essentielles fehlt, nämlich der simple Spaß am eigenen Entdecken und die so lebenswichtige direkte Zuwendung der Eltern, ist offensichtlich. Ein gemeinsames Lied mit den Eltern gesungen hilft mehr als tausend erzwungene Geigenstunden … Das Ehrgeizkind von heute ist aber von seinen täglichen Aktivitäten so in Beschlag genommen, dass es dazu überhaupt keine Zeit mehr hat. Warum das so ist? Weil wir Erwachsene es selber verlernt haben, mit Musik unverkrampft umzugehen, sondern diese Aufgabe – ganz Arbeitsteilung – an Dritte delegiert haben.

Wir haben eine Phalanx von musikalischen Bildungssystemen erschaffen, die sich in ihrer eigenen Konkurrenz gegenseitig lahmlegen. Früh, am besten schon per Zwangsbeschallung mit dem Gesamtwerk von Bach und Mozart im Mutterleib, werden die Kinder mit Musik „angefixt“. Wenn sie diese aber dann auf leidenschaftlichem Niveau betreiben wollen, werden ihnen die Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten. Ist es wirklich so beängstigend, wenn Musik plötzlich ihre ihr zugrundeliegende Freiheit einfordert? Wenn sie außerhalb der Systeme funktioniert, „frei wie ein Vogel“ (Busoni)?

„Jugend musiziert“ ist eine feine Sache, aber man muss nicht „Jugend musiziert“-Gewinner sein, um ein guter Musiker zu werden. Genau dies gilt es zu erkennen: Wenn wir das Individuum fördern, müssen wir auch damit rechnen, dass es sich wie ein Individuum verhält. Und das beinhaltet auch den Widerstand gegen etabliertes Denken, das Agieren außerhalb der Norm.

Mitunter treibt das Streben nach deutscher, gründlicher, „ordentlicher“ Bildung kuriose Blüten: So ist zum Beispiel die Existenz des hervorragenden Jugendsymphonieorchesters der Hans-Werner-Henze-Musikschule in Marzahn/Hellersdorf (Berlin) – eine durch Eigeninitiative der Schüler (!) entstandene überaus erfolgreiche und im In- und Ausland konzertierende Unternehmung – von seiner eigenen Musikschule bedroht. Diese sieht  sich nämlich aufgrund dubioser Lokalpolitik dazu gezwungen, ihr Hausorchester wieder auf ein unauffälliges „normales“ Maß zurechtzustutzen. Es sei nämlich „zu erfolgreich“, gäbe „zu viele Konzerte“ und überhaupt: Man müsse ja wieder mehr Musik im Vorschulalter fördern. Dass die Probenarbeiten wie auch die vielen Konzerte des Orchesters natürlich freiwillig sind und den Kindern einen Riesenspaß machen, wird dabei dezent verschwiegen. Und dass die Kinder dabei auch „schwierige“ zeitgenössische Musik aufführen, statt nur die musikschulübliche „Orchestersuite Fluch der Karibik“, ist den Betonköpfen aus Marzahn zusätzlich ein Dorn im Auge. [Näheres dazu im Bad Blog of Musick]

Vor einem Jahr wurde ich vom Musikkindergarten Berlin gebeten, eine musikalische Gruppenstunde mit Kleinkindern zu machen. Dieses Vorhaben scheiterte fast an der unmöglichen Auffindung desselben – der Musikkindergarten ist inzwischen so von Berliner Eltern begehrt, dass er seinen Ort geheim halten muss, weder auf der Webseite noch sonst irgendwo ist die Adresse zu finden. Die Stunde selber war sehr lehrreich für mich – während ich meine „Hämmerklavier“-Stücke spielte, machten die Kinder einfach spontan selber mit und droschen mit allen möglichen Gegenständen auf die Tasten ein, wesentlich entfesselter als ich es selber je hätte komponieren können. So wild konnte musikalische Früherziehung sein, so gefährlich und ungezähmt. In diesem Moment wurde mir klar, dass nicht die Kinder von uns lernen müssen, sondern wir von den Kindern. Und was das angeht, sind wir blutige Anfänger.

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