Sebastian Baumgartens Bayreuther Regiedebüt mit Wagners „Tannhäuser“ hatte im Vorjahr viel Unmut ausgelöst. Die Verstörung über die grell bunte Versuchsanordnung in Joep van Lieshouts Biogasanlage mischte sich mit Unzufriedenheit über die musikalische Interpretation, und so mussten neue Besetzungen von Titelpartie und Venus, sowie die Übernahme der musikalischen Leitung durch Christian Thielemann deutliche Verbesserungen mit sich bringen. Dass aber auch die szenische Lösung vom Publikum nunmehr größtenteils akzeptiert wird, grenzt an ein Theaterwunder.
Thielemanns Forderung, die Vorspiele hinter geschlossenem Vorhang zu spielen, wurde nicht entsprochen, aber die dem Konzept einer ursprünglich pausenlos (á la „Der fliegende Holländer“) geplanten Version geschuldeten Striche wurden geöffnet, so dass Wagners ohnehin kurze, zweite Dresdener Fassung nun ungekürzt erklingt.
Dem projizierten Programm „Kunst werde Tat“, folgen Projektionen von Atem-, Ess- und Verdauungsvorgängen und von Zellteilung. Die Kapitelüberschrift „Laichzeit“ initiiert die mit Tränken aus dem Alkoholator kombinierten Kopulationsvorgänge einer mit Tierwesen untermischten Gesellschaft im runden Raubtierkäfig. Vier Rochen, deren Schwanz Venus gerne hält, ersetzen offenbar die drei originalen Grazien; einmal drohen sie Tannhäuser unter sich zu ersticken. Denn der hat an der hochschwangeren Venus die Lust verloren, so dass sie ihn bei der nachinszenierten zweiten Strophe am Ohr zieht. Harfenklänge erzeugt dieser Sänger offenbar allein durch Berührung seiner Energiepunkte am rechten Arm. Die Einwohner des geschlossenen JVL-(Joep van Lieshout)-Ökosystems aus Nahrungsaufnahme, Verdauung und Verwertung zu Stoffen, aus denen wieder neues Essen und Trinken wird, lassen beim Frauenchor „Naht euch dem Strande“ aus höchster Höhe Glimmer herabrieseln.
Dass Liebe und Liebe-Machen in diesem System dazu gehört, ist unzweifelhaft, fraglich aber, warum Tannhäusers Aufenthalt im unterirdischen Käfig von der Gesellschaft, der diese Unterwelt keineswegs fremd ist, verteufelt wird, insbesondere auch, da Venus an der Oberfläche, etwa beim Sängerwettstreit des zweiten Aktes, ein gern gesehener Gast ist. Den von Nietzsche betonten Gegensatz von Dionysischem und Apollinischem sieht der Regisseur als dauerhaft grundlegenden Konflikt des Titelhelden zwischen exzessiver Sinnlichkeit und dem Arbeitsalltag der Wartburg-Ordnung. Beim verblüffend umfangreichen Schalmei-Zwischenspiel des Hirten spricht dieser dem Trank aus dem Alkoholator ebenso zu, wie kurz darauf die unter diesem auf Knien hervorrutschenden Pilger.
Tannhäuser wäscht sich den Geruch des Venusberges vom Leib, und Elisabeth schlafwandelt in der Höhe des zweiten Parallelsteges vorüber. Als „Waidmanns Lust“ nehmen die jagenden Sänger auf zwei Beutekisten Platz, aus deren einer später Elisabeth reichlich Schmuck anlegen wird. Im finalen Ensemble des ersten Aufzugs bemühen sich Landgraf und Sänger, ihren Untergebenen die Rückkehr Tannhäusers zu erklären. Wie im Vorjahr wird in den einstündigen Opernpausen weiter gespielt und gesungen, werden Exkremente abgesaugt, wird Gemüse gewaschen, geschält, geschnitten und zu Suppe verarbeitet, Methan- und Biogas gewonnen, der Alkoholator geputzt oder eine systemimmanente de Sade-Lieshout-Wagner-Messe zelebriert.
Trotz viel Slapstick erhellend ist die Szene zwischen Elisabeth, Tannhäuser und Wolfram, welcher eifersüchtig zum Messer greift – um dann einen Apfel zu schälen, der dann Heinrich den Schreiber holt, um Tannhäusers Begeisterung im Duett dazu auszunutzen, ihn eine Reihe von Verträgen und Abmachungen unterschreiben zu lassen und der schließlich auch für den Interruptus des von Tannhäuser und Elisabeth auf einer der Beutekisten vollzogenen Liebesakts sorgt. In erotischer Mauve-Beleuchtung erfolgt der Einzug der systemimmanenten Gäste, inklusive einiger Damen in schwarzer Reizwäsche. Nach kollektiven Friedenskuss-Umarmungen bleibt der Chor beim Gesang statisch, alles Interesse liegt auf der Projektion des Films einer Nackten, die das Öko-System im AVL-Maschinenpark demonstriert. Aber zum Lied von Biterolf wippt und schunkelt der Chor. Bei seinem Lobpreis der Venus tanzt Tannhäuser mit seiner hochschwangeren verlassenen Geliebten einen Walzer. Für sein Elisabeth düpierendes Geständnis muss er auf die Klo-Bank steigen und wird kurzzeitig aufgehängt.
Das nachinszenierte breite Ensemble bringt Schnee- und einen Krätzeanfall der Gesellschaft, während ein Schlangenfisch sich um die barbusig unbeweglich segnende, nur mit den Zehen wippende Madonna schlingt. Hatte Wagner den von ferne ertönenden Gesang der jungen Pilger pragmatisch mit den zuvor aus dem Wartburgsaal geflohenen Frauen besetzt, so kommen diese nun in Pilgergewändern in die Bühnenmitte, wo sie ihre Wertgegenstände abgeben müssen, welche in Eimern gesammelt und hochgezogen werden. Durch ihren Verzicht auf Tannhäuser irre geworden, tigert Elsabeth gebeugt über den höchsten Steg. Wolfram aber ist glücklich, dass Tannhäuser nicht unter den zurückgekehrten Pilgern – hier den Mitgliedern einer Putzkolonne – ist und offeriert Elisabeth Liebesersatz. Doch die will nichts von ihm wissen und opfert ihren Schmuck in einen Entsorgungscontainer (aus dem Wolfram ihn später herausfingern wird) und entschließt sich zur suizidalen Verarbeitung zu Biogas.
Elisabeths Vergasungsvorgang ist gegenüber dem Vorjahr einerseits etwas mittiger positioniert, andererseits aber in der Drastik reduziert, da Wolfram die Tür nach ihrem Abgang nicht mehr zugedrückt hält. In seinem Lied an den Abendstern wendet sich Wolfram direkt an die mit Lutscher heraufsteigende Venus, und er schwoft mit ihr, während Elisabeths Geist als alterierte Madonna vorbeischwebt. Zerstörerisch gießt Tannhäuser jenen Kanister, aus dem bei der Messfeier der Messwein geschenkt wurde, ins den Nahrungscontainer und fackelt das Gemisch ab. Venus erklärt ihren Tannhäuser – nach dessen erneuter Zuwendung zu der in ihrem eigenen Leichenzug mittrippelnden Elisabeth – für verloren, gebiert aber kurz nach Tannhäusers Tod dessen Sohn: Eros, ein zweiter Tannhäuser wird von den Frauen in leuchtend roten Gewändern als Heilsbotschaft, „Halleluja“, herumgereicht, während Wagners viel zitierter und hier – wie schon in Götz Friedrichs Berliner Inszenierung – final als Text ins Bild gesetzter Ausspruch, er sei der Welt noch einen Tannhäuser schuldig – neue Bedeutung erlangt. Was wird wohl aus Tannhäusers Sohn?
Wieder sind auf den Seiten der Bühne 50 zusätzliche Zuschauer platziert, aber das Licht glimmt nicht mehr während der Orchestervorspiele im Zuschauerraum. Um so mehr lässt sich Dirigent Christian Thielemann auf einen Wettstreit um die Dominanz der Musik über die Szene ein, lässt das Orchester pompös erklingen und kostet insbesondere Tannhäusers Pilgerfahrt symphonisch aus, während er die szenischen Aktionen eher gelangweilt begleitet. Und dem projizierten Schlusscountdown steuert der Dirigent durch Verbreiterung zeitlich entgegen. Solche Diskrepanz von musikalischer und szenischer Deutung mag im Brechtischen Sinne durchaus dialektisch erhellend sein. Aber wenn Thielemann beim „Einzug der Gäste“ eine sattsam überdehnte, obwohl von Wagner gar nicht komponierte Generalpause vor dem letzten „Heil“-Ruf des Chores einschiebt, um die Wirkung des Ausrufes „Heil!“ zu forcieren, so schafft dies, verschärft durch die Text-Projektion „Kunsttat“, gerade an diesem Ort, gefährliche Assoziationen, die von der Inszenierung nicht beabsichtigt sind.
Gesungen wird auf sehr hohem Niveau. Günther Groissböck ist ein sehr jugendlicher, heldischer Landgraf mit balsamischen Schmelz. Michael Nagy verkörpert die szenisch ungewöhnlich deutliche Sicht auf Wolfram makellos in Diktion und Stimmführung und auch mit Situationskomik. Als Minnesänger bilden Lothar Odinius als Walther von der Vogelweide, Thomas Jesatko als Biterolf, Arnold Bezuyen als Heinrich der Schreiber und Martin Snell als Reinmar von Zweter ein treffliches Ensemble mit durchaus individuellen Rollencharakteren. Wieder gefällt die szenisch aufgewertete, im geschlossenen System auch am Sängerkrieg teilhabende Katja Stuber als Hirt, sowohl mit ihrem sehr knabenhaften Sopran, aber auch mit herrlichen Schwelltönen, wie sie wohl nur eine weibliche Sängerin erzeugen kann.
Camilla Nylund setzt für die komplizierte Exzentrikerin Elisabeth einen sehr hellen Sopran und traumhafte Piani ein; wenn sie bekennt, dass die Blüte ihrer Jungfräulichkeit von Tannhäuser gebrochen wurde, wird Wagners musikalischer Bezug zum Gebet der Jungfrauen in „Rienzi“ ohrenkundig. Ein Gewinn ist die Besetzung der Venus mit der im Spiel ihrer Schwangerschaft gleichwohl stets universal begehrenden und begehrlichen Venus durch Michelle Breedt: eine Urmutter mit dramatischer, verführerischer Stimmgewalt, aber auch mit Witz.
Gegenüber seinem Vorgänger Lars Cleveman hat Torsten Kerl als Tannhäuser den Vorteil, dass er nicht in langen Unterhosen agieren muss. Trefflich verkörpert er den aufmüpfigen Rüpel. Sein „Erbarm dich mein“ erklingt konzeptionsbedingt sehr verhalten und bei der Gralserzählung charakterisiert er über, wenn der den Spruch des Papstes kreischend und detonierend zitiert. Insgesamt ist Kerl als Tannhäuser sehens- und hörenswert. Der popkonzertartige Zuspruch des Publikums erlebte gegenüber dem Vorabend noch eine Steigerung: schon für Eberhard Friedrich und den von ihm einstudierten, bravourösen Festspielchor Trampeln und Pfiffe der Begeisterung, gesteigert für die Solisten und den musikalischen Leiter, neben einer obligatorischem Mischung von Buh- und Bravorufen für den Regisseur.
Die nächsten Aufführungen: 3., 9., 15., 19., 21. und 27. August 2012.