Gegen Jeffrey Chings „Das Waisenkind“ ist Puccinis „Turandot“ ein Waisenkind. Die Grausamkeiten der chinesischen Prinzessin stehen bis auf eine kurze Szene zu Beginn in der unsichtbaren Vorgeschichte. Hier aber werden gleich ganze Familien und Dynastien auf der Bühne hingemordet, sogar Neugeborene bleiben nicht verschont, nur weil ein machtgieriger Hofbeamter zur Herrschaft strebt.
Dag-Ngans-Kagh ist sein Name und seine Taten entstammen nicht dem Märchen, sondern der chinesischen Geschichte, fünf Jahrhunderte vor unserer christlichen Zeitrechnung. Da wurde an einer Familie Zhao ein Massaker verübt, ein kleine Kind jedoch gerettet, das dann, erwachsen geworden, die Verbrechen rächt und mit der Familie Zhao einen neuen Staat gründet.
Der chinesische Komponist, Sinologe und Philosoph Jeffrey Ching (Jahrgang 1965), der heute in Berlin lebt, wollte mit seiner Oper natürlich keinen Brutalo-Schocker fabrizieren, vielmehr so ewas wie ein historisches Schicksalsrad entwerfen, ähnlich unserem mittelalterlichen „Rad-Bild“ mit den Stationen eines Königs: Regno, regnavi, sum sine regno, regnabo. Für das Textbuch, das er selbst schrieb, konnte er sich auf etliche dramatische Bearbeitungen des Stoffes, sowohl ganz frühe chinesische als auch auf europäische Adaptionen stützen, darunter das Libretto „L‘eroe cinese“ von Pietro Metastasio, das 1752 mit der Musik von Giuseppe Bonno in Wien uraufgeführt wurde. Auch Voltaire und Goethe benutzten „Das Waisenkind“: Voltaire für sein Drama „L‘orphelin de la Chine“, Goethe für sein Schauspiel „Elpenor“.
Hauptsächlich aber verwendete Ching eine frühe chinesische Version von dem Dramatiker Ji Junxiang aus der Yan-Dynastie. Chings Libretto ist eine hochartifizielle Sprachkomposition aus zwei chinesischen und fünf europäischen Sprachen, wobei der Sprecher in der jeweiligen Landessprache des Publikums spricht, die Wortfolge wiederum dem chinesischen Original folgt, was mitunter zu einer aktuelle SMS-Sprache führt: sehr komisch.
Jeffrey Chings Griff zu einem Welttheater umfasst selbstverständlich auch die Musik: Der instrumentale Aufwand ist gewaltig. Im Orchestergraben eine eher tradierte abendländische Besetzung, auf einer Plattform über dem Spielkasten, in dem die szenischen Aktionen ablaufen, findet sich eine Schlagwerksammlung, die auf jeder Musikmesse für Aufsehen sorgen würde. Natürlich mischen sich auch Ondes-Martenot-Klänge in das musikalische Geschehen, schon gleich in der Ouvertüre in der „Bataille entre Zhao Mengfu et Jean-Philippe Rameau, in der die Ondes-Martenot „kalligraphischeTranskriptionen“ der Schriftzeichen Zhaos in Klanggesten umsetzt, während Schlaginstrumente eine Rameau-Ouvertüre dagegensetzen.
Chings Klangphantasie, sein Gespür für instrumentale Farben und Klangreize ist beachtlich. Die musikalische Gestik korrespondiert sehr genau mit den szenischen Aktionen. Im zweiten Teil wirken manche Passagen eher konventioneller, „opernhafter“. Formal tritt die Dramaturgie der französischen Barockoper mit ihren Divertissements und tänzerischen Aktionen prägend hervor, was nicht überrascht: auch die französischen Opern des Barock waren im Prinzip immer Staatsakte.
Das Theater Erfurt war mit der Premiere ungewöhnlich gefordert und löste die schwere Aufgabe mit Bravour. Die Inszenierung: ein farbiger grosser Bilderbogen mit tieferer Bedeutung. Die physische Zerlegung des Bösewichts im Finale getreu einer chinesischen anatomischen und kosmologischen Tabelle geriet ein wenig umständlich und breit. Engagiert und hochprofessionell das Ensemble: Ein Gesamtlob. Samuel Bächli hielt Doppelorchester und Bühne souverän zusammen. Einmal mehr ein glänzendes Zeugnis für die Leistungsfähigkeit der deutschen Stadttheater.