Nicola Francesco Hayms Libretto zur Oper „Radamisto“ bildet die Grundlage eines königstreuen Werks mit den einschlägigen Komponenten des Schmeichlerischen. In der Handlung geht es vordergründig um einen Krieg zwischen den Truppen Thrakiens und Armeniens in der Antike. Doch die Story von der tiefen Zerstrittenheit in den verwandtschaftlich eng verbundenen Herrscherfamilien der beiden Länder nebst der gänzlich argumentativ, d.h. ohne Wehr und Waffen herbeigeführten finalen Versöhnung wurde nicht nur bei der Uraufführung 1720 vor dem Hintergrund der Aussöhnung des britischen Königs George I mit seinem Thronfolger (nachmals George II August) rezipiert, sondern blieb dauerhaft als ein Huldigungsstück mit Pauken und Trompeten in gelegentlicher Erinnerung.
Noch bevor im Theater an der Wien Georg Friedrich Händels Ouverture einsetzte, machten sich Frauen unter Spitzenhäubchen an einem nicht enden wollenden Tisch zu schaffen. Die potenzielle Festtafel erstreckt sich über die ganze Breite der Bühne. Indem die in wallende Röcke gehüllten Damen nach etlichen Gängen und wenig zielgerichtetem Hantieren unter Scheppern und Klirren auf einen Schlag zu Boden plumpsten, ergab sich das markante akustische Signal für den Einsatz der Kapelle.
Zwar präsidierte der verdiente „Barock“musik-Spezialist René Jacobs bei der Premiere der Neuinszenierung von Vincent Boussard in Wien dem Freiburger Barockorchester. Doch hätte es sichtlich und hörbar nicht unbedingt eines Dirigenten bedurft. Die erhöht aus der „barocken“ Sitzanordnung hervorragende Primgeigerin Petra Müllejans sorgte mit ihrer beredten Kopf-, Hals- und Armarbeit für die Zeichengebung, die das Team koordiniert.
Das bunte Frauenbataillon, dem der lange Tisch auch als Laufsteg dient, setzt starke optische Akzente und ist Agens der Beweglichkeit in einer ansonsten weithin statischen Inszenierung. Die Kostüme der Frauen, die als Kollektiv in Krieg und Frieden durch den Abend begleiten, wurden von Christian Lacroix „barocken“ Moden nachempfunden. Sie sollten in einem schlicht-modernen optischen Rahmen Exzentrizität signalisieren: Exklusivität, die das Leben der teils in modernere Kleidung gehüllten Royals rahmt und schmückt („Der Text oder das Libretto ist für mich nicht sehr wichtig“, erläutert der Ausstatter im Programmheft). Überhaupt hält sich das Antikisieren in engen Grenzen. An den glatten Wänden des schlichten Bühnenraums, der keinen konkreten Ort und keine genauere Zeit bestimmt, und hinter den drei Türöffnungen zeigen sich immer wieder Projektionen. Bevorzugt von Fischen im Aquarium (vielleicht, weil es sich bei Armenien und Thrakien einst um bedeutende Seemächte handelte). Die Schwimmübungen der muntern Fischlein lockern manche der von Händel nicht sonderlich aufmerksam instrumentierten Arien auf.
Florian Boesch, der virile Glatzkopf mit dem grundsoliden Bass, wurde als der kriegslüsterne König Tiridate von Armenien mit einem Brustpanzer bedacht, der kaum für Gefechtseinsätze taugt. Eher für die Erhebung zum Standbild. Überhaupt erscheint er als alternder Mann, der eben geliebt werden will und der sich mit langatmigen Arien die Zuneigung einer jüngeren Frau erschwatzen möchte – die seiner Schwägerin Zenobia. Die aber hält in allen Anfechtungen und Fährnissen unbeirrt zu ihrem so lange fatal entschlussschwachen Radamisto, dem thrakischen Kronprinzen (nicht ganz nachvollziehbar blieb, warum angesichts des reichlichen Angebots an glänzenden Countertenören David Daniels vom Theater an der Wien verpflichtet wurde). Zenobia bleibt auch unbeugsam, als sie mitsamt der Hauptstadt erobert wird. Sie ist bereit, so singt Patricia Bardon, für den Gatten mindestens tausend Tode zu sterben. Der Zuschauer schwankt, ob er der weithin anrührend, aber nicht immer ganz spursicher singenden superblonden Mezzosopranistin das glauben soll. Mit ihr hat Händels Musik jedenfalls ein schönes Beuteschema.
Womöglich wäre das Werk zutreffender Tiridate genannt worden. Indem der Usurpator auftritt, beginnt er nicht nur seine Ehefrau Polessina zu beleidigen, sie, die Tochter des thrakischen Königs Farasmene und Schwester Radamistos zu demütigen, sondern auch mit seinen edel-derben Stiefeln ausgiebig auf dem Tuch des langen Tischs herumzutrampeln. Keine guten Manieren – Boussards Inszenierung lässt den vorderorientalischen Monarchen lange Zeit nicht nur überaus raubeinig wirken, sondern wie das Klischee eines Warlords in einer südlichen Teilrepublik der zerfallenden Sowjetunion. Aber das passt nicht wirklich zu Hayms Vorgabe, dass das höhere Ziel dieses Despoten – neben dem allemal auch mit dynastischen Kriegen angestrebten Zuwachs an Macht, Reichtum und Ruhm – im Besonderen eben die Frau seines Schwagers ist. Er will sich nicht an das Inzestverbot halten, wird aber mit viel Überredungskunst (die exzessiv der Entfaltung von Gesangskünsten dient) von der ihn einkreisenden Familienbande zum Ablassen von seinem Hauptkriegsziel veranlasst. Entscheidend vielleicht durch den Frontwechsel seines Feldherrn Tigrane, den der vorzügliche Sängerdarsteller Jeremy Ovenden als bürgerlichen Realisten darstellt. Schließlich behauptet Tiridate singend Einsicht und Reue. Pauken und Trompeten begleiten das große Einvernehmen und das lieto fine, zu dem der bald nach dem Beginn der Vorstellung wie auf magische Weise vom Erdboden verschwundene Tisch wieder aus der Versenkung auftaucht.
Boussards Arbeit scheint darauf ausgerichtet, die von seinen Ausstattern kredenzten Schönheiten unauffällig anzurichten, diesen ungehindert den Vortritt zu gewähren. Die militärischen bzw. im Familienclinch militanten Aspekte finden sich noch nicht einmal angedeutet (sieht man von kurzfristig drohendem Missbrauch des Tafelsilbers ab und dem Abdruck eines Textes von Sigmund Freud im Programmheft). Insgesamt also: Belgisches Stadttheater verstrichener Jahrzehnte – wenig Adrenalin und viel Spitzenhäubchen. Zu den stimmlichen Glanzpunkten des langen Abends gehören die Auftritte der betrogenen und überhaupt wüst behandelten, zuletzt verständnisvoll verzeihenden Diktatoren-Gattin Polessina, deren Partie Sophie Karthäuser viele Facetten und immer wieder entschiedenen Drive verleiht: in den Momenten der Klage wie im wachsenden Willen zur Korrektur der gegen ihre Interessen gefallenen Entscheidungen und am Ende mit eiserner Gatinnengüte.