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Wenn ein Orchester seinen Gegenstand fördert

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Die Gründung des Ensemble Modern Orchestra markiert ein Umdenken
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In der letzten Ausgabe der neuen musikzeitung beschrieb Reinhard Schulz die prekäre Situation im Verhältnis von neuer Musik, speziell avancierter Orchestermusik, zu ihren Interpreten („Wenn der Apparat seinen Gegenstand ruiniert“, nmz 11/1998, Seite 1). Jetzt könnte man die Überschrift umformulieren: Denn in Hannover und anschließend noch in weiteren Städten, präsentierte sich das Ensemble Modern Orchestra, die zum Orchester ausgewachsene Formation des Ensemble Modern. Ziel des ausschließlich von Sponsoren getragenen Unternehmens: die kompetente Präsentation wichtiger Orchesterwerke der Moderne sowie die Erarbeitung neuer Kompositionen.

Die Geschichte der neuen Musik, vor allem seit dem Ende des letzten Weltkriegs, ist nicht nur von Komponisten, sondern nicht minder entscheidend oft von ihren Interpreten mitgeschrieben worden. Der Cellist Siegfried Palm, der Flötist Severino Gazzelloni, das Pianistenduo Alfons und Aloys Kontarsky, die Sängerin Cathy Berberian, Clytus Gottwald und seine „Schola Cantorum“ - sie alle und noch etliche andere haben die Werke gegenwärtiger Komponisten nicht allein perfekt realisiert, sie haben zugleich durch die Weiterentwicklung der eigenen Spiel-und Singtechniken die Komponisten zu neuen, ungewohnten Arbeiten inspiriert. So gestaltete produktive Interaktion ist auch mit kleineren Instrumentalensembles oder Kammermusikformationen möglich, schwieriger jedoch mit großen Orchestern in traditioneller sinfonischer Besetzung. Das erweiterte Schlagwerk allein bringt es noch nicht, es müßte auch ein anderes Bewußtsein hinzutreten, eine neue Vorstellung von „Orchesterspielen“, in das sich der individuelle Musiker aus freier Entscheidung und mit klarem künstlerischen Wollen gleichsam „kollektiv“ einbringt. Einige der Rundfunksinfonieorchester haben in dieser Hinsicht unter engagierten Dirigenten Vorbildliches geleistet. Rosbaud und Ernest Bour beim Südwestfunk, Hans Zender beim Saarbrücker Sender, auch das Bayerische Rundfunksinfonieorchester in frühen Musica-viva-Tagen oder die Rundfunksinfoniker in Köln und Stuttgart können auf große Taten verweisen, die in vielen Fällen allerdings heute eher zur Ausnahme geworden sind. Streng betrachtet erfüllen inzwischen nur noch das Südwestrundfunk-Sinfonieorchester unter Michael Gielen (in Donaueschingen) und – mit einigem Abstand – die Funkorchester in Saarbrücken und Stuttgart ihre Pflicht. Das Bayerische Rundfunk-Sinfonieorchester zeigt erst seit Udo Zimmermanns Musica-viva-Direktion etwas mehr Eifer. Daß dabei selbst ein Südwestrundfunk-Sinfonieorchester nicht gegen peinliche Einbrüche gefeit ist, bewies das Eröffnungskonzert der diesjährigen Donaueschinger Musiktage. Die Komponisten und Organisatoren der musikalischen Avantgarde haben schon vor zwei Jahrzehnten aus der wachsenden Misere die Konsequenzen gezogen. Die Boulez-Gründung des Pariser Ensemble Intercontemporain und das in Frankfurt ansässige Ensemble Modern markieren die Spitze der inzwischen bemerkenswert gewachsenen Zahl an Musica-nova-Formationen. Ihre interpretatorische Kompetenz wird von keinem Rundfunkorchester erreicht. Sie besitzen jedoch den Nachteil der begrenzten Besetzung. Auch bei gebührender Verstärkung entzieht sich ihnen das ganz große Orchesterstück, selbst wenn sich Ensemble Modern und Ensemble Intercontemporain, wie schon geschehen, für eine Aufführung vereinigen. Aus diesem Zustand hat sich jetzt das Ensemble Modern durch die Gründung des Ensemble Modern Orchestra befreit. Befreundete, gleichgesinnte Musiker gestatten das Wachsen des Orchestra auf bis über hundert Instrumentalisten. Die integrative Komponente erscheint für den „Klangkörper“ also gesichert. Ebenso entscheidend ist die Beweglichkeit des „Apparats“: Ungewöhnliche Raumaufstellungen, experimentelle instrumentale Kombinationen, neuartige Spielweisen und mobile Positionierungen für den einzelnen Musiker dürften bei diesem „Orchestra“ nicht zu dem von Kulturorchestern gern praktizierten „Murren“ führen. Das Entree-Konzert des Ensemble Modern Orchestra mit Lachenmanns „Schwankungen am Rand“ und der Uraufführung von Heiner Goebbels „Walden“-Komposition bot für diese Offenheit gegenüber ungewohnten Präsentationsformen signifikante Beispiele – wie unser Bild oben von der Goebbels-Uraufführung zeigt. Die Gründung des Ensemble Modern Orchestra war auf dem Hintergrund der Orchesterlandschaft in Deutschland und auch im Ausland ein dringend notwendiger Schritt für die Weiterentwicklung der neuen Musik. Den Komponisten steht nunmehr ein adäquater Orchesterapparat für das große Instrumentalwerk zur Verfügung. Den Geldgebern – der Siemens-Stiftung, der Kulturstiftung der Deutschen Bank, der Hoechst Foundation, der Expo 2000 Hannover – gebührt Dank für die jährliche Million in den nächsten drei Jahren, die das Unternehmen „Orchestra“ kostet. Was danach wird, weiß man nicht. Man sollte aber schon heute Überlegungen für die Fortführung des Orchester-Experiments anstellen, wenn das künstlerische Ergebnis entsprechend positiv ausfällt. Die Bewertung des Orchestra-Versuchs liegt vor allem im Qualitativen. Bei zwei Arbeitsphasen in der Saison, in denen sowohl wichtige Werke der Vergangenheit, wie eben Lachenmanns „Schwankungen“, erarbeitet werden sollen als auch neue Partituren, dürfte sich der quantitative „Ausstoß“ neuer Kompositionen eher in Grenzen halten. Für die „Kulturorchester“, vor allem die des Rundfunks, kann die Existenz des Ensemble Modern Orchestra kein wohlfeiler Anlaß zum bequemen Rückzug sein. Das Ensemble Modern Orchestra sollte für die anderen „Klangkörper“ im Gegenteil eine Herausforderung bedeuten: Es ihm in Engagement, intellektueller Beweglichkeit und Qualität gleich zu tun. Diese Vorbildfunktion nimmt aber auch das Ensemble Modern Orchestra und das seinen Musiker-Kern bildende Ensemble Modern selbst in die Pflicht. Beide Gruppierungen sollten sich auch in Zukunft primär zu einem rigorosen Avantgarde-Begriff bekennen.

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