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Wiege für ein polnisches Ensemble Modern?

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Polnisch-deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik beim Warschauer Herbst
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Auf Initiative des Deutschen Musikrates formierten sich im Deutsch-polnischen Jahr Mitglieder des polnischen Ensembles „kwartludium“ mit jungen europäischen Instrumentalisten zur Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt für Neue Musik. Zum dritten Mal gingen junge Musiker aus verschiedenen europäischen Ländern für eine Woche in Klausur, um das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit beim Festival Warschauer Herbst zu präsentieren. – Ein Erfahrungsbericht.

Warschau, im Herbst. Von Beschaulichkeit keine Spur. Energisch arbeitet die Stadt an ihrem Erscheinungsbild. Straßen, Bürgersteige, Fassaden, überhaupt alles, worauf einer gehen, stehen, fahren und draufschauen kann, sind der fortgesetzten kritischen Prüfung unterzogen: „Renowacja! Modernizacja! Renovieren! Sanieren!“ sind die Parolen, die hier noch von jedem Presslufthammer, jeder Bohrmaschine weitergegeben werden. Baustellen allerorten: Am Flughafen, auf dem Weg in die Stadt. Das Hotel eingerüstet und noch an der „Academia Muzyczna Frederyka Chopina“, der Musikakademie Frederik Chopin, wo die Probebühne der Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt aufgeschlagen ist, bringen Handwerker den Eingangsbereich auf Hochglanz. Mehr von allem, vor allem aber: Bloß keine Mängelverwaltung mehr! Immer wieder nur ausflicken, wie zu verflossenen volksrepublikanischen Zeiten üblich, gilt im heutigen Polen klassenübergreifend als steinzeitliches Verfahren. Spiegelglatt muss der Belag sein, auf dem wir einer neuen Zeit entgegenrollen! Darin zumindest ist man im Westen angekommen.

Und dann auf einmal Musik, die sich in diese Ästhetik nicht recht fügen will. Klänge, die eine Dimension betreten, vor der nicht wenige Instrumentallehrer ihre Studenten immer gewarnt haben. Dirigent Rüdiger Bohn von der Zeitgenössischen Oper Berlin, zum dritten Mal künstlerischer Leiter der Ensemblewerkstatt beim Warschauer Herbst, fordert ausdrücklich ein, wovor der „gut“ erzogene Musiker instinktiv zurückschreckt: Den Klang mit Geräusch verbinden! So die Anforderungen im diesjährigen Werkstatt-Programm. Eingelöst allerdings weniger in den Arbeiten der Komponistinnen Bohdana Frolyak (Ukraine) oder in jener der Vertreterin des polnischen Gastlandes Dobromila Jaskot. Demgegenüber erschien die Musik eines Georg Friedrich Haas („Monodie“), Toshio Hosokawas („Voyage IV-Extasis“), Wolfgang Rihms („Pol – Kolchis – Nucleus“) wie von einem anderen Stern.

Vor allem Rihms Tryptichon forderte vom Ensemble, zumal im Mittelteil, abrupte, geräuschbetonte Wechsel vom drei- und vierfachen Sforzato-Fortissimo zum Piano und zurück. Was im real existierenden Gemeinwesen – im polnischen wie im bundesdeutschen – unweigerlich den Vermerk „Renowacja! Sanierungsbedürftig!“ erhalten würde, ist in der Tonkunst gerade das Neuland, das zu betreten ist. Mancher Werkstatt-Teilnehmer hat es in einer intensiven Arbeitswoche mit Erstaunen registriert.

„Bartók-Pizzikato!“ – „Am Steg!“ „Kräftiger Bogen!“ Vor allem die tiefen Streicher sehen sich mit Rüdiger Bohns energischem, nicht nachlassendem „More noise!“ konfrontiert. Das Kellerstudio der Academia Muzyczna Frederyka Chopina gleicht zeitweise der Atmosphäre eines Kraftraums, zumal wenn Bohn während seines Dirigats die ächzenden Celli, die geschlagenen, gerissenen Geräusche im Kontrabass in bestätigender, ermunternder Absicht kommentiert. Die Luft im fensterlosen Studio 1 der Musikakademie ist zum Schneiden. Bohn lässt nicht locker, schlägt sich im Eifer des Gefechts den Finger blutig. Wer von der Kunst will leben, muss der Kunst was geben.

In der Generalprobe, wenige Stunden vor dem Abschlusskonzert, erfahren die 22 Teilnehmer schließlich die Legitimation der eingeforderten Ästhetik einer instrumentalen Körperlichkeit. Toshio Hosokawa sucht das Gespräch mit den Musikern. Im Zentrum einmal mehr die Flöte. Der Komponist hat sich in „Voyage IV“ für Akkordeon und Ensemble diffizile Luftgeräusche vorgestellt, deren Realisierung die examinierte junge polnische Flötistin ein weiteres Mal in Gewissensnöte stürzt. Schon während der Probenarbeit entgegnete sie dem verdutzten Dirigenten: „Aber dann denken doch alle, ich könnte gar nicht richtig spielen!“

Nach dem Konzert zeigt sich der sensible japanische Komponist hochzufrieden. „Ich bin glücklich!“ sagt Hosokawa über die Interpretation einer Partitur, die die Ensemblewerkstatt soeben unter großem Beifall im ausverkauften Kammermusiksaal gemeistert hat. Tatsächlich hätte man im mehrheitlich jungen Publikum die Stecknadel fallen hören. Kein Huster, kein Räuspern. Gebannt folgt man einer Musik, die in ihrer Pianissimo-Struktur, in ihrem durch die Register gehenden Durchschwingen in eine Dimension verweist, für die das Bewusstsein erst noch entstehen muss.

Unter den Zuhörern ist auch der Festivalkurator des Warschauer Herbstes Tadeusz Wielecki. Die Initiative des Deutschen Musikrates, die von Goethe-Institut und GVL, der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsrechten, finanziert wird, sieht er in größerer Perspektive. Die Rede kommt auf ein Desiderat. Ein Solistenensemble vom Rang der großen europäischen Ensembles steht in Polen noch auf der Wunschliste, geht es doch um die Realisierung von Partituren diesseits von Henryck Gorecki oder Benjamin Britten wie Wielecki betont. Dass die Ensemblewerkstatt auf Musikrats-Initiative nun zum dritten Mal in Warschau etabliert werden konnte, ist insofern mit der Hoffnung verbunden, dass sie zur Wiege eines polnischen Ensembles Modern werden möge.

Wie genau dies vonstatten gehen soll, weiß augenblicklich niemand. Natürlich sind die finanziellen Fragen zu lösen, wären Mentalitätsaspekte zu berücksichtigen. Denn kaum scheinen Strukturen, die anderswo erfolgreich waren, auf polnische Verhältnisse übertragbar. Ob die Eigeninitiative, die Selbsthilfegruppe, als eine der westlichen Gründungsvarianten, erwartet werden darf, wird von manchen Beobachtern bezweifelt. Ob die andere Variante, ein Solistenensemble durch Beschluss herbeizuführen, in Anbetracht der gerade erst überwundenen politischen Strukturen wünschenswert ist, ebenfalls.

Andererseits gilt: „Noch ist Polen nicht verloren“. Vielleicht öffnet ja der mit der polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt beschrittene Pfad ganz neue, ganz andere Wege. Die Gelegenheit wäre günstig, feiert der Warschauer Herbst in zwei Jahren doch sein 50-jähriges Bestehen.

Hörtipp: Bericht zur Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt auch im Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik, 8.10.05, 22.05 bis 22.50 Uhr

 

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