„Wie schön, Sie haben Ihr Hobby zum Beruf gemacht!“ – diesen Satz hat jeder Musiker schon mal gehört. Vor die Wahl gestellt, spielen ausgebildete Musiker lieber ohne Gage, um überhaupt auftreten zu dürfen. Oder sie unterrichten einen begabten Schüler auch mal umsonst, wenn dieser aus einer sozial schwachen Familie kommt. Selbstausbeutung aus Liebe zur Musik.
Gemäß einer Studie des Deutschen Kulturrates von 2013 beträgt das zu erwartende Jahreseinkommen professioneller Musiker durchschnittlich 11.500 Euro (Quelle: Künstlersozialkasse). Von Leidenschaft für den Beruf allein kann keine Familie ernährt und keine auskömmliche Rente gesichert werden. Ein Mangel an qualifizierten Lehrkräften ist vorprogrammiert. Tausende Kinder stehen allein in Berlin auf Wartelisten öffentlicher Musikschulen, bundesweit sind es im Durchschnitt pro öffentlicher Musikschule jeweils 100. Es fehlt am politischen Willen für eine stabile Finanzierung.
Musiker und andere Künstler sind mit ihren Sorgen nicht allein. Freiberufliche Hebammen fürchten um die Existenz ihres Berufsstandes. Aktuell streiken die Erzieherinnen öffentlicher Einrichtungen gegen schlechte Bezahlung. Das sind keine singulären Probleme einzelner Berufsgruppen. Die Folgen einer verfehlten politischen Schwerpunktsetzung betreffen direkt die Zukunft unserer Kinder – von den Vorbereitungen zum ersten Schrei über die Betreuung bis hin zur musikalischen Förderung.
Für das menschliche Werden und Wachsen sind im Zeitalter der ökonomisierten Beschleunigung weder Bewusstsein noch Mittel vorhanden. Während unser Land Milliarden in Großbauprojekte (fehl-)investiert, fällt es offensichtlich schwer, Ausgaben durchzuführen, deren Resultate nicht unmittelbar sichtbar und greifbar sind. Aber das Prestige Deutschlands wird nicht durch eine Elbphilharmonie oder einen neuen Flughafen definiert. Wir sind das Land von Dichtern, Denkern, Komponisten, Malern und Musikern. Und ausgerechnet hier fallen musische Fächer Kürzungen zugunsten der MINT-Fächer mit „messbaren Erfolgen“ im Sinne der PISA-Studie zum Opfer.
Das Bedauern über derartige Kürzungen ist momentan etwas zwiespältig. Denn welchen Sinn macht der stoische Aufbau eines Septakkordes auf dem Papier, ohne diesen spielen und bewusst hören zu lernen? Eine grundsätzliche Kurskorrektur mit ganzheitlichem Ansatz im schulischen Musikunterricht ist längst überfällig. Gehörbildung, Musiktheorie, Musikgeschichte und Instrumentalunterricht gehören zusammen. Instrumentalunterricht muss fester Bestandteil des Schulalltags werden. Damit kreatives und ganzheitliches musikalisches Lernen gelingen kann, sind mehr Zeit und Raum in den Lehrplänen notwendig. Außerdem fehlt es an geeignetem begleitenden Lehrmaterial, an zeitgemäßen Lehrbüchern ebenso wie an der Entwicklung kreativer digitaler Lernprogramme für den theoretischen Musikunterricht. Auch der praktische Musikunterricht ist reformbedürftig und sollte um spielerische, improvisatorische Elemente erweitert werden anstatt sich auf die Wiedergabe von Werken zu beschränken.
Improvisation als obligatorischer Inhalt des Instrumentalunterrichts würde nicht nur den Spaß am Musizieren erhöhen, sondern auch zum besseren Verständnis harmonischer und melodischer Strukturen beitragen. Ein neues Konzept für einen ganzheitlichen Musikunterricht ist nur mit ausreichenden Mitteln und enger Zusammenarbeit der Kultusministerien mit Experten möglich. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage diskutiert werden, ob der Unterschied im Gehalts- und Beschäftigtenstatus zwischen Instrumental- und Schulmusiklehrkräften gerechtfertigt ist – entsprechende Ergänzungen beim Studium für Instrumentallehrkräfte vorausgesetzt. Soweit sind wir noch lange nicht. All das ist: Zukunftsmusik!
Seit Jahren verweisen Studien, Bildungsberichte, Hirnforscher und Pädagogen darauf, dass das Erlernen eines Musikinstrumentes nicht nur die sozialen und emotionalen Kompetenzen fördert, sondern auch einen positiven Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten hat. Diese Fakten haben bisher kein Umdenken bei den Verantwortlichen bewirkt. Die Ursachen für die Marginalität des Instrumentalunterrichts im Schulsystem sind vielfältig und werden genährt durch ein schwindendes gesellschaftliches Bewusstsein für den Wert der Musik: Regelmäßig wird heute versucht, GEMA-Mitglieder als geldgierige Freaks von vorgestern vorzuführen. Durch die Möglichkeiten des Internets empfinden sich viele beim Zusammenschnitt und der digitalen Verfremdung bestehender Werke ohnehin selbst als Musiker und Komponisten. Fragen rund um die Akzeptanz des Urheberrechts haben eine Kluft geschaffen zwischen jenen, die Musik „nutzen“ wollen, und denen, die professionell Musik schaffen und ganz „uncool“ nicht bereit sind, ihre Rechte beschneiden zu lassen. Das Image des Musikerberufes hat sich verändert. Viele wissen nicht mehr um die Leistung und Arbeit hinter der Musik, die sie lieben. Dass Musik in der Regel nicht im Internet entsteht, meist ein jahrelanges zeit- und kostenintensives Studium Voraussetzung für diesen Beruf ist, scheint angesichts der ständigen und oft kostenlosen Verfügbarkeit von Musik schwer vorstellbar.
Verschärft wird die Lage durch die vergleichsweise unbedeutende Rolle der Kulturpolitik, deren Anliegen im politischen Raum selten vorrangig Berücksichtigung finden. Dabei wären einige Verbesserungen der Situation von selbstständigen Musikern und Honorarlehrkräften mit geringsten Mitteln schnell umsetzbar: Eine Präzisierung der Kriterien zur Scheinselbstständigkeit, eine flexiblere Gestaltung des Arbeitslosengeldbezuges, eine Reform beim Anspruch auf Krankengeld, eine regelmäßige Überprüfung der abgabepflichtigen Unternehmen bei der KSK zur Sicherung der Beitragsstabilität …
Bei der Finanzierung öffentlicher Musikschulen ist wiederum nicht nachvollziehbar, warum bei uns nicht möglich ist, was in Österreich längst funktioniert. Dort gibt es ausschließlich Festangestellte an öffentlichen Musikschulen, die Finanzierung erfolgt durch eine „Drittelfinanzierung“ (staatlich, privat und kommunal). Handlungsvorschläge an die Politik gibt es genug. Umgesetzt wurde in der Vergangenheit davon nur wenig.
Es steht viel mehr als die Verarmung oder gar das Ende ganzer Berufsgruppen auf dem Spiel. „Kultur ist das, was bleibt, wenn alles andere verloren ist“, hat die Schriftstellerin Selma Lagerlöf gesagt. Was passiert, wenn unser System mit einseitigem Schwerpunkt auf Wirtschaftswachstum und kurzsichtigem „Kosten-Nutzen-Denken“ kollabiert? Was bleibt einer Gesellschaft, die es versäumt hat, ihre Künstler zu unterstützen und ihre Kinder ganzheitlich zu fördern? Es ist noch nicht zu spät für einen radikalen Gegenentwurf, in dem kulturelle Werte genauso viel zählen wie materielle. Das Denken in Schablonen, Machtblöcken und Wachstumsparametern hat sich nicht bewährt.
Wir brauchen eine „Kultur“-Revolution“ mit künstlerischen Mitteln. Sich neben Familie, Beruf und Sorgen um die wirtschaftliche und soziale Zukunft in Aktionsbündnissen, Verbänden oder Parteien zu engagieren, kostet viel Kraft. Aber Resignation, Anpassung und Selbstausbeutung sichert nachfolgenden Generationen bestimmt keine bessere Grundlage. Es geht um ein System, das die ganzheitliche Förderung aller Kinder und Jugendlichen ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins stellt. Um eine Zukunft, in der die Fantasie beim Malen, Spielen und Musizieren den Leistungsdruck mit meist eindimensionalen Lerninhalten aus Schulen und Kinderzimmer verdrängt.
Agnes Krumwiede, Diplommusikerin (Pianistin mit Konzertexamen, Klavierpädagogin), Mitglied des DTKV und ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages als kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen in der vergangenen 17. Legislaturperiode