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Wir sind die Menschen von Mahagonny: Eine aufsehenerregende Weill-Inszenierung von Benedikt von Peter am Theater Bremen

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Ob wir – das Publikum - nicht Geld haben, um dem armen Jim Mahoney aus der Klemme zu helfen? Denn wer in Mahagonny kein Geld hat, den ereilt die Todesstrafe. Die neue aufsehenerregende Inszenierung Benedikt von Peters von Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahgonny“ spielt nicht auf der Bühne – dort sitzt das Orchester –, sondern im Zuschauerraum, zuvor sogar in allen Räumen des Theaters.

Der Chor ist mitten unter uns, aller SängerInnen singen ihren Part sozusagen allein – unvorstellbar schwer – , weil die Kollegen weit weg sind. Das Publikum wird so zu einem Teil das Chores oder umgekehrt: der Chor ein Teil des Publikums. Irgendwo agieren die SolistInnen, für alle sichtbar über zahlreiche Leinwände. Wir sind also die Menschen von Mahagonny geworden, kriegen zwischendurch Sekt – für ein Euro fünfzig! – müssen einen Taifun überstehen, bei dem wir von den Chormitgliedern und anderen Theatermenschen betreut und gerettet werden: es werden dicke Decken und ganz kleine Klapphocker verteilt. Sogar der Platz vor dem Theater ist einbezogen. 

Nicht nur vor unseren Augen, sondern sozusagen direkt neben uns treiben Leokadja Begbick, Dreieinigskeitsmoses und Fatty ihr Unwesen: Nach der Stadtgründung von Mahagonny ziehen sie den vorbeiziehenden Goldsuchern und Holzfällern mit ihren Vergnügungsangeboten Fressen-Kämpfen-Saufen-Lieben das Geld aus der Tasche. Die Parabel über die Habgier aus dem Jahr des heraufziehenden Nationalsozialismus 1929, die bei der Uraufführung in Leipzig 1930 einen der größten Opernskandale ausgelöst hat, läuft so wirklich aktuell unter die Haut gehend ab: Am Ende ziehen die Protagonisten verzweifelt ab, entkleidet bis aufs Hemd.

Der 34-jährige von Peter ist besessen von der Idee, dass Oper uns angeht. Das ist dem neuen Leiter der Sparte Oper am Theater Bremen schon mehrfach in Berlin und Hannover gelungen. Es war faszinierend zu erleben, wie allein technisch diese Idee das Haus fordert, wenn jede Spielszene mitten in den Zuschauern so gefilmt werden muss, dass sie die Leinwände erreicht, wenn jeder Chorsänger über die vielen herumstehenden Fernsehapparate den Einsatz des Dirigenten abnehmen muss, wenn die Solisten für ihre großen Szenen sich immer durch Publikum lavieren müssen, das erfahrungsgemäß unberechenbar reagiert.

Durch die vielen Leinwände hatte man natürlich auch an keiner Stelle einen schlechten Platz, im Gegenteil, man konnte das von hässlicher Gier gezeichnete Gesicht der Begbick, die brutale Macht von Moses, die Angst des Jim, die Verzweiflung der Jenny in Großaufnahmen sehen. Da ist subtilste Schauspielkunst gefordert: Nadja Stefanoff, Karsten Küsters, Michael Zabanoff und Marysol Schalit überzeugten ohne Abstriche, mit einer Intensität ohnegleichen. Das gilt auch für Luis Olivares Sandoval als Fatty, Christian Andreas Engelhardt als Jakob Schmidt, Loren Lang als Bill und Christoph Heinrich als Joe. Alles wurde gut unterstrichen durch die einfallsreichen Kostüme von Geraldine Arnold.

Weill verlangte, dass bei der musikalischen Wiedergabe berücksichtigt werden müsse, „dass hier abgeschlossene Formen vorliegen“. Wie Markus Poschner und den Bremer Philharmonikern genau das in dem – freilich bestens beherrschten Tohuwabohu – gelang, war bewundernswert. Man hörte Schärfe, Witz, Ironie, aber auch Melancholie und Trauer für die vielen verschiedenen Genres, für die geschlossenen Formen, Rezitative, Songs, Arien und Ensembles. Der Grenzgang zwischen Kulinarik und auch bedrückendem Lehrstück ist für die Eröffnungspremiere der Spielzeit der neuen Intendanten Michael Börgerding bestens und viel bejubelt gelungen.

Weitere Termine: 09. und 20. Oktober, 04., 29. und 30. November 2012

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