„Hier liegt die Zukunft der klassischen Musik.“ Ein Wort von Sir Simon Rattle. Gemeint hatte der Dirigent damit „El Sistema“, das soziale Musikprojekt für Jugendliche aus prekären Verhältnissen in Caracas, das mit dem „Teresa Carreño Youth Orchestra of Venezuela“ mittlerweile ein Spitzenensemble der Extraklasse aufbieten kann. Das System hat Schule gemacht. Beim Bonner Beethovenfest war mit der „Sinfonica Heliopolis“ aus Sao Paulo auch der brasilianische Ableger dieses Erfolgsprojekts zu Gast.
Bei geschlossenen Augen, könnte man meinen, hier seien die Symphoniker aus Wien oder aus einer der anderen Hauptstädte des alten Musik-Europa am Werk. So duftig, so leicht wie das Ländlerthema aus dem Kopfsatz der Siebten Schubert vom Podium der Bonner Beethovenhalle heruntertänzelt. Und doch musiziert hier die Sinfonica Heliopolis aus Sao Paulo, wobei der schöne Name in der Realität der 19-Millionen-Metropole eine durchaus triste Bedeutung hat, handelt es sich doch im Falll von Heliopolis um nichts anderes als um eine Favela, um eines jener anarchisch wuchernden Armenviertel im Speckgürtel der Megastädte.
Später, beim nicht endenwollenden Bravo, dem vielmaligen Herausrufen, beim Applaus des Orchesters für seinen Dirigenten und geduldigen Klangerzieher Peter Gülke ist es Letzterer, der dem Publikum mit seinem Lob für die zwei kaffeebraunen Hornistinnen des Orchesters noch einmal die Dimensionen ins Gedächtnis ruft, unter denen hier musiziert wird: Zusammen seien die Beiden keine Dreißig. Und schon erwachsen, möchte man hinzufügen. Wie Cardolina am ersten Pult der Ersten Geigen. Zwar lebt sie nicht direkt in Heliopolis, aber doch in Sao Paulo, was, wie sie sagt, eine sehr schöne, aber sehr komplizierte Stadt sei. Zum Orchester ist sie gekommen, weil man ihr dort ein Stipendium gewährt habe, denn es sei schon eine ausgesprochen teure Angelegenheit, sich in Brasilien zum Musiker ausbilden zu lassen.
Wie man sich das vorstellen muss, weiß Peter Gülke, der das Orchester vor Ort in Sao Paulo besucht hat: Erfahrungen, die ihn tief bewegt haben. Glaubhaft spricht Gülke davon, wie er „in der unglaublichen Begeisterung, der Intensität der Arbeit Unterricht darüber bekommen“ habe, „was Musik bedeuten kann für Menschen, die mitten in einem der schrecklichsten Armenviertel Brasiliens ausgebildet werden und bei denen die musikalische Arbeit zugleich auch Sozialarbeit ist“. Noch beim Konzertabend, an dem Gülke mehrmals zum Saalmikro greift, um ein paar Takte zu sagen zur Schubert-Sinfonie, zu Mozarts Titus-Ouvertüre, zu Heitor Villa-Lobos’ Bachianias Brasileiras – zieht er auch den Vergleich zu den hiesigen Verhältnissen. Eigentlich wünsche er jedem Politiker einmal einen Besuch in Heliopolis, wofür er Beifall bekommt. Auch dafür, wenn er sagt, dass es ihn „tief beeindruckt“ habe, „wie Menschen, die unter so unglaublich schwierigen Bedingungen leben, die mit unseren nicht im entferntesten zu vergleichen ist, so viel Lebensmut ausstrahlen und wie wichtig die Musik ist als ein Mittel, sie mitteilungsoffen zu machen“. Und dann noch dies: Seine Hospitation bei der Arbeit eines Chores bei ganz kleinen Leuten sei das „Bewegendste“ gewesen, das er seit langem erlebt habe. Das Rattle-Wort von der Zukunft der Klassischen Musik, die in Veenzuela liege, könne er nur unterschreiben und Sao Paulo hinzusetzen, Heliopolis genau genommen.
Dabei ist das musikalische Sozial- respektive das soziale Musikprojekt gerade mal vierzehn Jahre jung. 1996 hat es der Dirigent Silvio Baccarelli ins Leben gerufen. 36 Studenten waren es damals – damals ausschließlich noch aus der Favela. Dann, vor nunmehr sechs Jahren tritt mit der gebürtigen Hannoveranerin Sabine Lovatelli, die in Sao Paulo eine Konzertagentur betreibt, eine entscheidende Förderin auf den Plan. Ihr Vorbild – eben das El Sistema in Caracas, Venezuela, 1975 von José Antonio Abreu, dem diesjährigen Schirmherrn des Beethovenfestes aus der Taufe gehoben. Eine Gründung, die das venezolanische Musikleben revolutioniert und die mit dem Terresa Carreño ein hochkarätiges Jugendorchester hervorgebracht hat, das seinerseits Gast beim diesjährigen Beethovenfest war. Der Auftritt des gut und gern 150 Köpfe zählenden Orchesters unter dem jungen Dirigenten Christian Vasquèz – mit der Fünften Beethoven und Fünften Tschaikowsky sowie mit der dem Orchester wie auf den Leib geschriebenen Candide-Ouvertüre von Leonard Bernstein – es war ein rauschender Erfolg. Ein Feuerwerk aus Spielfreude und Präzision bis hinein in die diversen Zugaben, die das Orchester, etwa beim Bernstein-Mambo choreografisch mit La-Ola-Wellen garnierte. Ein Hauch von Copacapana.
Eigentlich kein Wunder, dass Sabine Lovatelli vom Mozarteum Brasilero in Sao Paulo spontan überzeugt war. „Als ich merkte, wie positiv diese Bewegung dort ist und als mir Herr Abreu anbot, zu helfen, hab ich sofort zugesagt. Nur, hatten wir nicht so viel Zeit wie er. Und da hab ich mir überlegt, wie ich eine Etappe überspringen kann.“ Seitdem „schickt“ sie, wie sie sagt, die von ihrer Agentur verpflichteten Künstler, die Szenestars, die namhaften Solisten, die Stimmführer der großen Orchester nach Heliopolis, um Unterrichtsstunden zu geben. Musikalische Entwicklungshilfe zum Wohl der Sinfonica, die seitdem nicht nur auf gut 80 Musiker angewachsen ist, sondern die ihre Mitglieder nun – in strengen Auswahlverfahren im Übrigen – aus ganz Brasilien rekrutiert und nun seinerseits, wie das venezulanische Vorbild Leuchtturm und Magnet fürs ganze Land geworden ist.
Dass die Sinfonica wie das Teresa Carreño von Bonn aus ihre Europatourneen antreten, hat den Adrenalinspiegel im Vorfeld mächtig nach oben getrieben wie Sabine Lovatelli zu berichten weiß: „Die haben geprobt Tag und Nacht.“ Nicht wenig hängt vom Erfolg ab – in Bonn, in Europa. „Die waren gerührt, in das Museum zu kommen und das bleibt natürlich fürs Leben.“
Apropos. Gerührt waren zu guter Letzt auch die Bonner selbst, ist doch das Beethovenfest nicht nur ein Festival für, sondern auch eins mit den Bürgern der Stadt, worauf Intendantin Ilona Schmiel zu recht stolz ist. Darauf, dass die brasilianischen Musiker in Gastfamilien leben, dass das Orchester-Campusprojekt mittlerweile im zehnten Jahr besteht und erfolgreich ist, dass es die Familien verändert hat. „Und – wollen Sie die schönste Nachricht wissen?“ Bitte, gern. „Wir haben mehr Familien, die unsere Studenten aufnehmen wollen als Studenten, die kommen.“