Hauptbild
Tanz als unmittelbarer Ausdruck der Individualisierung von Bildung: Foto: Tas Kyprianou
Tanz als unmittelbarer Ausdruck der Individualisierung von Bildung: Foto: Tas Kyprianou
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Wo junge Künstler ihren Blick auf die Stadt werfen

Untertitel
In London entfesseln Partner aus Bildung, Kultur und Wirtschaft gebündelte Kräfte der Musikerziehung
Publikationsdatum
Body

Heiner Goebbels höchstpersönlich sitzt am Mischpult der Royal Festival Hall des South Bank Centers, wo gerade die Londoner Premiere seines Orchesterwerks „Surrogate Cities“ über die Bühne geht. Seit der Frankfurter Uraufführung 1994, geschrieben für die Junge Deutsche Philharmonie, ist diese szenisch gedachte und literarisch aufgeladene Sinfonie der Großstadt bereits erstaunliche 34 Mal produziert worden. Und ist jetzt vollends dort angekommen, wo sie hingehört – in einer Metropole, aus der die krass kontrapunktische Polyphonie des urbanen Raums noch aus ihrem stillsten Winkel tönt.

Die höllische Härte von Betonklötzen, das rhythmische Rattern der Tube, das groovende Getriebensein des menschlichen Pulses und doch auch manch idyllische Insel des Rückzugs – all dem verleiht der diesen Sommer 60 Jahre alt werdende Komponist mit seiner enormen Schlagzeug- und Blechbläserarmada eine körperlich spürbare musikalische Vitalkraft. Könnte diese gar nicht zivilisationskritische, sondern mit praller wie poetischer Bildkraft gemalte Vision der Metropole in besseren Händen sein als in denen der musikalischen Jugend? Und kann es ein richtigeres Publikum geben als die Kids solcher Stadtteile wie den Docklands, Canary Wharf und der Isle of Dogs, in denen bis zu 97 Prozent der Kinder Migrantenhintergrund haben und die Isolationsprobleme nach veritablen Integrationsschüben schreien?

Selbstverständliche Teilhabe

Das Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance hat in einer breit angelegten konzertierten Aktion Partner aus Bildung, Kultur und Wirtschaft zusammengeführt, um nachhaltig die kulturelle Erziehung zu fördern und den Zugang zu den Künsten und die selbstverständliche Teilhabe daran möglich zu machen. Damit begegnet die Institution entschieden jener lauter werdenden Kritik (die auch auf dem jüngsten Hamburger Musikvermittlungskongress der Körber-Stiftung artikuliert wurde) an den lediglich kurzfristig wirksamen Aktionen und Events der „Music Education“. Das Konservatorium, im Old Royal Naval College des beschaulichen Greenwich mit seiner Musikfakultät und in Herzog & De Meurons imposant innovativ gestaltetem Gebäude in Deptford mit Europas bestausgestatteter Fakultät für zeitgenössischen Tanz gelegen – es begreift Musikvermittlung als umfassende und zentrale Aufgabe, von der Dozierende und Lernende gleichermaßen durchdrungen sind. Alles beginnt damit, dass künstlerische Kompetenz hier nicht erst im Rahmen der postgraduierten Studienangebote erworben wird: Jeden Samstag öffnet die Hochschule ihre Pforten als Jugendmusikschule. Im „Junior Trinity“ können Dreieinhalbjährige bis Neunzehnjährige nicht nur Chorsingen, Instrumente, Orchester- und Big Band-Spiel sowie Tanz lernen, sondern sogar Komposition und Dirigieren belegen.

Für den ehemaligen Studenten Duncan Ward war genau diese individuelle Kopplung und gezielte Stärkung seiner Interessensgebiete der Schlüssel zu seinem heutigen Erfolg: Der 22 Jahre junge Künstler debütiert in diesem Jahr am Pult der Bamberger Sinfoniker. Marion Friend leitet das Junior Trinity-Programm und hebt gerade die Bedeutung des „persönlichen Stundenplans“ hervor, der „Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein stärken soll, damit die Absolventen ihr Potenzial als Künstler wirklich erreichen“. Nicht die Standardisierung von Bildung, sondern deren Individualisierung wird großgeschrieben. 60 bis 70 Prozent der Teilnehmer am Junior Trinity gehen ihren Weg zur Musik weiter, sei es im eigenen Haus oder an den anderen Hochschulen. „Unser Programm verändert Leben“, sagt Marion Friend mit dem ehrlichen Enthusiasmus des britischen Understatement und trennt dabei mitnichten die Erfolge der Musikerziehung mit ihrer Entdeckung herausragender Begabungen von den sozialen Folgeeffekten, die ihr Angebot durch die wöchentliche Samstagsschule in Greenwich und die Satelliten-Schulen in den Problemstadtteilen erzielt. Teilhabe, Inklusion und „Outreach“ sind die Schlüsselbegriffe dieses Ansatzes, der die Entwicklung künstlerischer Exzellenz als Ziel selbstverständlich einschließt.

Besonders innovativ und zukunftsweisend ist die kunstspartenübergreifende Arbeit: Da gehen aus dem Besuch der Nationalgalerie zeitgenössische Gruppenkompositionen hervor, zu denen Kerry Andrew, Composer in Residence in Londons Händel-Haus-Museum, ihre Schützlinge anregt. Der Modern Dance wirkt als weiterer Schlüssel zu jungen Menschen aus nichteuropäischen Kulturen, die eben kaum je mit westlicher Klassik sozialisiert wurden. Bewegungsimprovisationen und Eurythmie öffnen dann auf spielerische Weise tänzerische Türen selbst zu Schumann und Beethoven  – oder eben zu Heiner Goebbels Opus. Dessen „Surrogate Cities“ erweist sich als perfekte Inspirationsquelle für die eigenen Entdeckungsreisen der jungen Leute, die ihre Stadt und ihr Leben durch diesen kreativen Prozess begreifen lernen. „Für viele Teilnehmer ist das Musizieren und Tanzen die erste Erfahrung dieser Art – und eine genuine Überraschung, den Blick auf ihre Stadt zu verbalisieren und künstlerisch zu verarbeiten“, sagt Claire Mera-Nelson, Direktorin der Musikfakultät des Trinity. 

Künstlerische Barrierefreiheit

Das Konzept der „Response“, also der gefühlsmäßigen, tänzerischen und geistigen „Antwort“ und Reaktion der jungen Leute auf ein Werk wie „Surrogate Cities“, wird mitunter als zu eng gefasst betrachtet. Hier wird es überzeugend angewandt: Denn Goebbels musikalischer Großstadtfilm diente den 550 Teilnehmern nicht nur als musikalische, sondern auch als thematische Inspirationsquelle für die eigene genuin kreative Betätigung, die von einer Breakdance-Truppe bis zu einem Blockflöten-Ensemble reichte, das Kompositionen von Mitschülern aus der Taufe gehoben hat und dabei die musikalischen Grenzen lustvoll ins Vokale und Performative weitete. Eben diese künstlerische Barrierefreiheit und die unorthodoxe Bildungsvorstellung jenseits von Standards und kanonischem Wissen hebt auch der Principal des Trinity, Anthony Bowne, hervor: „Unsere Welt ist multidimensional, die Künste in ihrer Interdisziplinarität sind das Vorbild dafür.“

Ungewöhnliche Partnerschaften einzugehen, ist denn auch sein Spezialgebiet. Und so haben sich also das Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance mit Londons selbst tagsüber quirligem South Bank Center, das London Philharmonic Orchestra und das National Youth Orchestra of Great Britain mit Förderern zusammengetan, um gemeinschaftlich Goebbels Werk und zugleich flankierend dazu „Surrogate Cities exploded!“ auf die Beine zu stellen. Vibrierend energetisch spielte das durch die Partnerensembles verstärkte Trinity Laban Orchestra die sinfonische Partitur. In den Foyers präsentierten Studierende wie Teilnehmer des „Community“-Projects vorab die multiplen Ergebnisse ihrer „Response“ auf das seinerseits fröhlich zwischen Klassik, Jazz, Blues und Elektronik changierende Original, um sich hernach gemeinsam im großen Saal wiederzufinden. Dass bei alledem nicht der Verdacht postmoderner Beliebigkeit aufkam, muss am pädagogischen Eros der Macher liegen. Denn überall schienen Anspruch, Haltung und die strukturierende Hand der Lehrenden durch, die offensichtlich nie nur das das einzelne Projekt, sondern stets die Kontinuität der Entwicklung im Blick haben. 

Wie sehr dieses Verständnis von Musikvermittlung das Leben des Instituts prägt, macht Claire Mera-Nelson deutlich: „Andere Konservatorien waren schockiert, als sie hörten, dass wir das Studienjahr mit einer ‚Co-Lab‘ eröffnen und damit die heiligen Solounterrichte opfern. Doch die Studenten lieben gerade diese offenen, flexiblen und fächerübergreifenden Formen. Und sie machen ihren Lehrern klar, wie wichtig die sind, weil sie Musik auch jenseits der persönlichen Bestleistung begreifen – im Kontext ihrer Stadt, ihrer Umwelt, der Gesellschaft.“

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!