Es ist leicht, sich über Fazil Say lustig zu machen. Als Pianist spielt er gern – unter lautem Stöhnen – extravagante Kadenzen, als Komponist schreibt er gut hörbare Kompaktpartituren, die westliche Ohren in nicht allzu gewagte Klanggefilde führen. Immerhin gibt es oft schön gesetzte Orient-Ornamente und gelegentlich benutzt Say Instrumente, die nicht unbedingt zum Standardmobiliar eines Symphonieorchesters aus unseren Breiten gehören.
In seiner 2. Symphonie, die jetzt beim Istanbul Music Festival als Auftragswerk herauskam, sorgt ein Theremin für transzendente Engelsmusik, während die übrige, sehr blech- und perkussionslastige Orchesterbatterie (inklusive exotischer Wind- und Wasserraritäten) fleißig Schostakowitsch oder Bartók anklingen lässt. Sehr aufgeheizt ist das, zeitweise arger Flimmusikbombast, immer wieder aber auch eindringlich zurückgenommen. Say kombiniert pulsierende Streichertupfer – inklusive einer pochenden Harfe – mit rabiaten Klavierdissonanzen, oft liegen dröhnende Drohungen über einem recht simpel gewobenen Klangteppich. Womöglich unabsichtlich – und keineswegs ungeschickt – verschränkt Say musikalische Klischees aus West und Ost, führt sie manchmal regelrecht vor. Der Name seiner Symphonie ist „Mesopotamia“, Say möchte einen geographischen und weltanschaulichen Parcours abschreiten. Euphrat und Tigris tauchen auf, Sonne und Mond. Helle, versöhnliche Passagen stehen neben düsteren Bildern von Krieg, Terror und Tod – insgesamt ist Says zweite Symphonie ein ziemlich wuchtiges Spektakel, mit zehn Sätzen und 130 Musikern.
Nun fand diese Uraufführung ja nicht in Donaueschingen oder im Münchner Gasteig statt, sondern in einem Istanbuler Kongresszentrum. Dort wurde das Ganze ein gigantischer Publikumserfolg. Die Ovationen galten vermutlich nicht nur dem Künstler Fazil Say, sondern sind auch als Statement zu verstehen. Seitdem Say sich vor ein paar Wochen per Twitter über muslimische Glaubensgrundsätze lustig gemacht hat, steht er unter heftigem Beschuss. Die Oberstaatsanwaltschaft der Türkei hat ein Verfahren gegen ihn eröffnet, im Oktober soll die erste Verhandlung stattfinden. Der konkrete Vorwurf lautet: „Öffentliche Herabwürdigung religiöser Werte, die von einem Teil der Bevölkerung geachtet werden“.
Say spielt mit dem Gedanken, auszuwandern, sollte es zu einer Verurteilung kommen. Vor dem Mikrofon äußert er sich aus naheliegenden Gründen nicht zu dem Thema. Dass es überhaupt zu solch einem Verfahren gekommen ist, dürfte der in letzter Zeit immer heftigeren politischen Radikalisierung (klerikal und nach rechts) von Ministerpräsident Erdoğan und seiner Regierungspartei AKP geschuldet sein. Finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite gibt es für das Istanbul Music Festival übrigens kaum, fast alles bezahlen private Sponsoren. Der Borusan-Konzern ist wesentlicher Finanzier und leistet sich sogar einen eigenen Klangkörper namens Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, welcher (unter der hervorragenden Leitung von Gürer Aykal) Says Symphonie imposant uraufgeführt hat.
Im weiteren Programm dieser Festspielausgabe gab es unter anderem Gastspiele des Zürcher Balletts, große Namen wie die Pianistin Hélène Grimaud oder den Gitarrenvirtuosen Miloš, türkische Nachwuchskräfte konzertierten mit einschlägigen Altmeistern. Und der im globalen Musikbetrieb immens erfolgreiche Georgier Giya Kancheli stellte ein neues, zart trauriges Werk vor.