Was wäre das Musiktheater ohne die antiken Mythenstoffe? Die traumnahe Sphäre des Mythos und die mit der Ratio nicht fassbare emotionale Wirkung von Musik gingen in der Oper von Anbeginn eine treue Ehe ein, die bis heute gehalten hat. Am Anfang stand Orpheus, der dank der überlieferten rätselhaften Macht seines Gesanges zu einer Art Schutzheiligen der Oper avancierte. Und ganz aktuell sind es die Argonauten – zu denen Orpheus ja schließlich auch gehört – und Medea, die auf der Bühne der Stuttgarter Staatsoper wieder einmal zum Leben erweckt werden.
Der Komponist Hans Thomalla, Jahrgang 1975, hat in seiner ersten Oper "Fremd" – einem Auftragswerk der Stuttgarter Staatsoper und dort am Wochenende uraufgeführt – dann auch Bezug genommen zu früheren Bearbeitungen des Stoffes und ein Stück Rezeptionsgeschichte mitkomponiert. Eine stringent verfolgte Handlung gibt es dementsprechend nicht. Schlaglichtartig werden einzelne Motive des Mythos beleuchtet: Auf den Epos des Apollonios von Rhodos baut die erste Szene auf: Erzählt wird von der Meeresüberfahrt der Argonauten und ihrem Anführer Jason, die nach Kolchis segeln, um dort das Goldene Vlies zu rauben. Orpheus, erstaunlicherweise eine Sprechrolle, stellt die Helden und ihr Taten einzeln vor, die freilich – wie es in einer modernen Oper zu sein hat – jeglichen Ruhmesglanz verloren haben: Es sind Verlorene, Fremde unter Fremden, Sprachlose, Verwirrte, Desorientierte. Alle gesungen von Mitgliedern des glänzenden Stuttgarter Opernchores, einstudiert von Michael Alber: 8 Altistinnen, 12 Tenöre und 17 Bässe.
Anna Viebrock – in dieser Produktion verantwortlich für die Regie, das Bühnenbild und die Kostüme – kleidet die Antihelden paarweise in witzige Kostüme, so dass sie wirken wie eine zufällig zusammengewürfelte Reisegruppe: dickbäuchig in Badehosen, Waden zeigend im Wanderdress, machohaft im Kampfanzug oder im Outfit jüdischer Gelehrter. Die Kulisse, ein stählernes Deck eines Dampfers, verströmt Bauhaus-Flair.
Es folgt eine Liebesszene zwischen Jason und der barbarischen Zauberin Medea auf Worte des Dramas "Die Argonauten" von Grillparzer und durchwirkt von Zitaten aus Cherubinis Medea-Oper sowie ein instrumentales Intermezzo, das die Flucht Medeas mit Jason und dem geraubten Goldenen Vlies zum Inhalt hat. In der letzten Szene, die Viebrock in einen großbürgerlichen Salon verlegt, bringt Medea die gemeinsamen beiden Kinder mit einem Gifttrunk um, als Rache für Jasons Verrat. Im Epilog singt der Opernchor a cappella letzte ersterbende Artikulationsversuche der Argonauten.
In den alten Mythen entdeckte die Psychoanalyse schon früh Analogien zu der symbolischen, schwer verständlichen Sprache des Traumes: Einer Sprache, "die eine andere Logik hat als unsere Alltagssprache, eine Logik, in der nicht Zeit und Raum die dominierenden Kategorien sind, sondern Intensität und Assoziation", so formulierte es 1951 Erich Fromm. Ähnlich der individuellen Traumarbeit übersetzen Mythen allgemein Menschliches in eine bildhafte Sprache, die Einblicke in die psychische Innenwelt des menschlichen Kollektivs zulässt: in sein Verhältnis zwischen den Geschlechtern ebenso wie in seinen Umgang mit Trieben, Unglück und Tod oder in sein Verständnis von Gut und Böse.
In diesem Sinne durfte man auch an diesem Abend frei darüber assoziieren, was die gewalttätige Geschichte der Argonauten und das zerstörerische Verhältnis Jasons und Medeas uns heute noch zu sagen haben. Sieben Jahre hat Thomalla an seiner Oper gearbeitet. Dementsprechend komplex und voller Bezüge ist sein knapp zweistündiges Werk. Beim ersten Sehen und Hören wird davon nur wenig fassbar. Da hilft auch Viebrocks Inszenierung, die auf Personenführung weitgehend verzichtet, wenig weiter.
Was aber von Anfang bis Ende in Bann zieht, ist der vielschichtige Klangkosmos, den Thomalla zum Mythos erfunden hat. "Fremd" ist zunächst eine Choroper, die auch als eine Hommage an die Stars des Abends, den Stuttgarter Opernchor und seinen Leiter Alber, gedacht ist. Geschickt nutzt Thomalla darüber hinaus die räumlichen Möglichkeiten des Hauses, positioniert Instrumentengruppen in den Logen des Zuschauerraums: Schlagwerk, Bläsersolisten und eine Blechblaskapelle stellen die musikalische Gegenwelt zum Orchester im Graben dar. Gewalttätige, harte Einwürfe von Blech und Schlagwerk konfrontieren das Bühnenpersonal immer wieder mit seiner tödlichen Zukunft. Das Singen bewegt sich zwischen großer Operngeste, zeitgenössischen Artikulationsarten und Verstummen, und wenn man genau in die instrumentalen Zwischenspiele hineinhört, kann man zuweilen naturhaftes Fließen, das Rauschen des Meeres und das Pfeifen des Windes, ächzende Schiffsmasten und Nebelhörner erkennen. Das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Johannes Kalitzke macht seine Sache ganz hervorragend. Sachte setzt Thomalla gelegentlich als Verfremdungseffekte Live-Elektronik und Zuspiele ein.
In seinen schönsten Momenten macht "Fremd" die Zeitlosigkeit der alten Geschichte ganz direkt fühlbar. Etwa im instrumentalen Intermezzo: im dicht wuchernden Geflecht aus Streicherflageoletts, das sich langsam aufbaut und dann minutiös zurückzieht aus dem Raum. Oder im bruchstückhaften Monolog der Medea (wunderbar: Annette Seiltgen) aus Cherubinis Oper, den Thomalla mit eigenem überschreibt und verformt, wie auch das amerikanische Wiegenlied "Hush little Baby", das von Medeas Kindern (berührend: Julia Spaeth und Carlos Zapien) gesungen wird. Oder am Ende, wenn der Argonauten-Chor zaghaft und stockend den kollektiven Zusammenklang sucht. Oder ganz allgemein: wenn sich die Sologesangsstimmen im zarten polyphonen Geflecht der Instrumentenstimmen aufheben und das eine ohne das andere nicht mehr sein kann. Dann verliert sich die Zeit in der Musik und macht sie groß.