Seit Marcus Everding die künstlerische Leitung der Orff-Festspiele in Andechs („Orff in Andechs“) 2008 von Hellmuth Matiasek übernommen hatte, ist es dort aus mit dem kleinen bairischen Welttheater. An die Stelle des Sommers der bairischen Sprache trat nun die Andechser ORFF-Akademie des Münchner Rundfunkorchesters, das fortan als Festspielorchester fungiert. Die mehrere Jahre erfolgreich gespielte Inszenierung des Goggolori vom einstmaligen Orff-Schüler Wilfried Hiller ist vorerst abgesetzt, wenn auch die Idee der Programmerweiterung auf den Umkreis Orffs bestehen bleibt.
Und das bietet schier unbegrenzte Möglichkeiten, wenn man bedenkt, wie weit ausgreifend Orff seine musikalischen Ideen schöpfte. Im Bühnenfach ging er bei Claudio Monteverdi in die Lehre, nicht nur mittels Werkanalyse. Vor seinen Trionfi entstand das Triptychon der Lamenti, bestehend aus Bearbeitungen der Bühnenwerke Monteverdis mit Stoffen der antiken Mythologie. Die Klagen der Ariadne und des Orpheus spannten in der konzertanten Aufführung der Andechser Festspiele zwischen Monteverdi und Orff bereits einen weiten Bogen, der sich in Richtung klarer Konturierung, rhythmischer Pointierung, sprachlicher Diktion und inhaltlicher Straffung ausdehnte.
Ulf Schirmer am Pult des Münchner Rundfunkorchesters wagte mehr: Die Auftragskomposition an den Hiller-Schüler Minas Borboudakis knüpfte an die Fortentwicklung Orffs an und schöpfte aus der Zeitlosigkeit der mythologischen Kernaussagen Ansätze für zeitgemäße musikalischen Konzepte, die auf gesangliche Erzählung und narrative Szenenabfolge gut verzichten konnten. Das Orchesterwerk „Medea granulaire“ weist bereits im Titel darauf hin, dass der musikalische Ansatz nicht in einer Handlung zu suchen ist. Die der elektronischen Klangerzeugung abgeleitete Kompositionstechnik der granularen Synthese wird hier also genauso zum Thema, wie die Charakteristik der Zauberin Medea, die mörderisch Rache übt, ja sogar dafür die eigenen Kinder opfert.
Aber diese Geschichte ist nur Hintergrund, Anlass für bedrohliche Erregung, für unterschwellige Spannung in fremdartigen Klangschichtungen, aus denen sich in rhythmischer Modulation die geballte Energie des Hasses und des Schmerzes immer wieder eruptiv entlädt. Die Reduktion der Mittel auf Grundbausteine, die – im Sinne der granularen Synthese in vielfachen Varianten zur Tonmasse verschmolzen, aus der Borboudakis die musikalische Gestalt formte – wirkt sich in dem kurzen Werk als subtile Eindringlichkeit aus.
Ulf Schirmer machte in der Uraufführung offenbar Zugeständnisse an das Andechser Publikum und so blieben Potenziale des Werkes im Schongang ungenutzt. Der Wahnsinnstaumel der Medea, die menschliche Tragik und Zerrissenheit orientierte sich dadurch weniger an Euripides als an Heiner Müller, dessen Medea stolz und selbstbewusst weitgehend die Kontrolle behält.