Wagners Bühnenweihfestspiel hat an der Berliner Städtischen Oper eine lange Tradition. Der legal frühest möglichen Aufführung außerhalb des Bayreuther Festspielhauses, gleich nach Freiwerden dieser Partitur, am 1. Januar 1914, unter Eduard Möricke, folgten sechs weitere „Parsifal“-Inszenierungen. Die jüngste Produktion macht Dirigent Donald Runnicles zu einem musikalischen Ereignis, während der spannende Ansatz der Inszenierung von Philipp Stölzl, den Fanatismus hermetischer Religionsgemeinschaften auf einer Zeitreise zu untersuchen, weit weniger stimmig gerät als bei Stefan Herheim in Bayreuth.
Eine realistische Felsendekoration mit zwei Anhöhen und einer Miniaturburg auf dem linken Hügel soll die konservativen Besucher sofort für sich in Beschlag nehmen. Aber das Bühnenbild, für das der Regisseur Philipp Stölzl gemeinsam mit Conrad Moritz Reinhardt verantwortlich zeichnet, erweist sich als Falle. Bereits nach acht Takten öffnet sich der Vorhang und gibt eine Golgatha-Szene preis. Die Assoziation an Oberammergau wird noch verstärkt durch weitere, zahlreiche Tableaux vivants.
Ein Römer sticht seine Lanze in die Seite des Gekreuzigten, und ein Anhänger fängt das sprudelnde Blut in einer Schale auf, dann wird Jesus vom Kreuz genommen und in Linnen gewickelt. Schale und Speer werden als Zeugengut von den Anhängern konserviert. Auf einem gegenüber liegenden Felsen beobachtet dies eine Frau in schwarzem Gewand und mit silbernem Haarreif, offenbar Herodias, aber optisch bereits identisch mit Kundry. So weit die optische Realisierung der später erzählten Vorgeschichte des „Parsifal“.
Der Einfallsreichtum der Kostüme von Kathi Maurer ist erst im Applauslicht festzustellen. Denn die Haupthandlung ist schlecht beleuchtet, um immer wieder Schlaglichter auf Szenenanordnungen der Vorgeschichte, zumeist auf den Höhen der Hügel platziert, im Licht deutlicher herauszuheben. So erfolgt etwa auf dem linken Felsen die Übergabe der Zeugengüter Speer und Kelch an Titurel, der sich zum Gralskönig aufschwingt, auf der rechten Anhöhe errichtet Klingsor sein Gegenreich mit floreal umrankten, nackten Blumenmädchen. Der heilige See ist als eine Vertiefung vorne, auf der rechten Bühnenseite, sichtbar; hier wird Amfortas zunächst entkleidet, um dann ein Sitzbad zu nehmen.
Den vorherrschenden Eindruck eines Bühnennaturalismus stören von Anbeginn drei mal drei Neonröhren über der Szene, wie auch Leuchtkästen an den grauen Rück- und Seitenwänden. Diese brechtischen Lichtobjekte verweisen auf eine Sandkasten-Anordnung oder museale Topographie. Deutlicher wird diese Versuchsanordnung eines Ritter-Spiels, wenn Parsifal im schwarzen Freizeitanzug mit Krawatte in die Welt der fellbewamsten Kreuzritter einbricht; den erlegten Schwan hat er offenbar sofort ausgenommen, denn seine Hände sind blutig, und Federn kleben an seinen Ärmeln.
Von den stets gleich zum Schwert greifenden Ordensrittern wird insbesondere Außenseiterin Kundry massiv bedroht; sie zieht sich dann ans rechte Bühnenportal zurück, wo sie sofort einschläft. So erlebt sie in der Verwandlungsmusik nicht den mit Weihrauch und Fahnen einher ziehenden Flagellantenzug.
Kirchliche Pozessionen mit Flagellanten haben an der Deutschen Oper Berlin große Vorbilder, etwa auch in Götz Friedrichs Inszenierung von Korngolds „Die tote Stadt“. Dem gegenüber geraten die Flagellantenzüge, anstelle der im Einheitsraum dieser Inszenierung nicht erforderlichen Wandeldekorationen, weniger eindringlich. Das Kreuz des Zuganführers wird auf dem rechten Hügel als Naturaltar errichtet. Aus einem Reliquienschrein wird der Gralskelch ausgepackt, der aber nicht leuchtet; er wird auch weder von Amfortas, noch im dritten Aufzug von Parsifal geschwungen, sondern von einem Statisten zelebriert.
Am Ende des ersten Aufzugs dann die einem Gemälde nachempfundene Kampfszene: ein rampenparalleles, verlangsamtes Spiegelgefecht der durch den Anblick des Gralskelches zunächst teilweise hysterisch in Ohnmacht gefallenen, dann um so kampfgestärkteren Kreuzritter.
Im zweiten Aufzug ist der Eingang eines aztekischen Tempels zwischen die beiden Felsenberge gerückt. Hier feiert Klingsor mit den Blumenmädchen eine schwarze Messe mit Menschenopfer auf einem steinernen Altar. Der Magier reißt das dampfende Herz aus der Brust des frisch geschlachteten jungen Mannes, und auch Parsifal soll offenbar so enden.
Entgegen der besungenen Handlung, entreißt Parsifal nicht dem Helden Ferris die Waffe, sondern hat das museale Schwert bereits am Ende des ersten Aufzugs als Souvenir aus der Welt der Kreuzritter mitgenommen und benutzt es nun, beim pantomimischen Zeitlupenkampf gegen die Geliebten der Blumenmädchen. Den zweiten Aufzug darf der Held ohne Jackett singen, denn das ziehen ihm die Blumenmädchen schon mal aus. Der Kuss ist ein Cunnilingus: Kundry deckt Parsifal mit ihrem Rock zu und umschlingt ihn mit ihren nackten Beinen.
In der sich anschließenden Szene verschenkt die Inszenierung die Chance, durch die im ersten Aufzug eingeführte Person des Jesus von Nazareth und die lebenden Bilder die Hintergründe der Handlung zu erklären: Wenn Parsifal sein Erlebnis der Gralswelt deutet, so wird auf der Felsenspitze erneut die Kreuzigungsszene mit dem Auffangen des Blutes gezeigt. Zwar zitiert das Programmheft den fünften Akt von Wagners dramatischem Entwurf „Jesus von Nazareth“, mit dem Protagonisten als Sozialrevolutionär. Aber der Fluch seines Blickes (Kundry: „Ich sah Ihn – Ihn – und lachte. Da traf mich sein Blick“) und Kundrys Antwort auf Parsifals Frage, wer denn Amfortas verwundet habe (Kundry: „Er… Er… der einst mein Lachen bestraft“) bringt hier nicht etwa die Person des Jesus ins Spiel, der bei Wagner das um ihn errichtete Heiligtum verwundet hat und selbst eines Erlösers vom kirchlichen „Zauber“ bedarf. Die Inszenierung belässt es hingegen bei bedeutungsschwanger nichtssagenden Blicken in den Zuschauerraum. Und die Inhaltsangabe im Programmheft macht es sich einfach, wenn sie fälschlich behauptet, Klingsor habe Amfortas verwundet, wie Stölzl es in einer Nebenhandlung des ersten Aufzuges stumm erzählt.
Ungewöhnlich ist, dass Parsifal die Blumenmädchen niedermetzelt und Klingsor absticht, so dass der weder den Speer schleudern, noch dass Jesus ihn über Parsifals Haupt festhalten muss; Parsifal nimmt den Speer einfach als ein weiteres Souvenir mit.
Dem zeitgenössischen Regietheater verpflichtet zeigt sich Stölzls Regie im dritten Aufzug, mit Pluralität der Wirklichkeiten, Assoziationsketten und Polysemantik. Ein Tableau vivant während des Vorspiels zeigt heutig gewandete Personen und manifestiert einen Zeitsprung. Die Dekoration des ersten Aufzugs ist durch eine Halogenleuchte über dem heiligen See angereichert, die Miniaturburg auf dem linken Felsen verfallen. Der nun auch heutig gewandete Gurnemanz zieht Kundry aus dem Wasser, und die stummen Besucher der Location betrachten die Frau in ihrem antiquierten Opernkostüm wie ein Fossil. Offenbar haben Gurnemanz’ Augen gelitten, wenn er konstatiert, Parsifal käme „geschloss’nen Helmes, Schild und Speer“; denn der naht in seinem bekannten Anzug, nun allerdings – wie Tannhäuser auf den Pilgerstab – gestützt auf eine unförmige Krücke, die von den stummen Anwesenden dann als heiliger Speer aus dem Futteral geschält wird.
Jene stumme Gesellschaft ist es auch, die den Parsifal im See wäscht und salbt, und die dafür von ihm die Taufe empfängt. Kundry aber bleibt bei dieser Gruppentaufe außen vor, wird jedoch später vom Kollektiv dreimal unter Wasser getaucht. Auch folgt sie Parsifal und Gurnemanz beim Abgang nicht, sondern tränkt den Kreuzträger der Flagellanten.
Titurels Leiche wird in einem gläsernen Sarg präsentiert, dessen Scheibe von Amfortas für das an den Vater gerichtete Gebet eingeschlagen wird. Dann rammt sich Amfortas den heiligen Speer in den Leib, die Krone des Selbstmörders setzt Gurnemanz dem Parsifal auf, während Kundy in der nun autark um weibliche Mitglieder angereicherten Gralsgemeinschaft mit einem stummen Schrei untergeht.
Der von William Spaulding einstudierte Chor singt anfangs hinter der Szene, agiert und singt durchwegs überzeugend. Bedauerlicherweise werden jedoch die
Chöre in mittlerer und höchster Höhe elektroakustisch zugespielt. Dies trübt insbesondere den Genuss des mit rund vierzig Kinderstimmen ausgeführten Knabenchors, der hier – den Intentionen des Komponisten gemäß – in originaler Besetzung zu hören ist, während er zumeist, sogar in Bayreuth, von Frauenstimmen gesungen wird.
Die Titelpartie singt Klaus Florian Vogt lyrisch sphärisch, wie ein Geist über den Wassern. „Mit diesem Zeichen bann’ ich deinen Zauber“ tönt wie ein Kunstlied der frühen Romantik, andere Phrasen intoniert der Tenor wie Aparts, und wenn es wirklich dramatisch wird („Amfortas! Die Wunde!“), nimmt der Dirigent das Orchester merklich zurück. Evelyn Herlitzius ist eine in der Intensität ihrer Darstellung berückende Kundry, auch wenn ihr die Spitzentöne selten überzeugend gelingen. Thomas Jesatko gestaltet den Klingsor weniger profiliert als in Bayreuth, aber stimmlich fulminant.
Matti Salminen, eine überdauernde Sängerpersönlichkeit von hohem Format, interpretiert den Gurnemanz in bester stimmlicher Verfassung, eine faszinierende Leistung. Alejandro Marco-Buhrmester ist merklich mit dramatischer Erfahrung aus Harry Kupfers Inszenierung gespeist; sein Amfortas wartet im dritten Aufzug mit ungewöhnlichen Piani auf ,insbesondere das Gebet gestaltet er mit ganz famosen Nuancen. Alfred Pesendorfer singt den Titurel nicht mit Grabesstimme, sondern kraftvoll, wie er auch auf der Szene rüstig, auf einen Stab gestützt, in Erscheinung tritt. (Dass sein Double in den Tableaux vivants eine ganz andere Körperfigur hat, liegt wohl an der geänderten Besetzung in der zweiten Aufführung.)
Das Orchester der Deutschen Oper Berlin bemüht sich erfolgreich, die Intentionen seines neuen musikalischen Chefs umzusetzen. Donald Runnicles interpretiert Wagners letztes Bühnenwerk sehr diesseitig, schwungvoll, mit großen dynamischen Unterschieden, aber doch mit einem dem verdeckten Orchester nicht unverwandten Sinn für Klangmischungen. Akustisch trefflich klingen die Gralsglocken und besonders aggressiv dann dieses Thema in den Pauken.
Schon nach der zweiten Pause erhält Runnicles Bravorufe. Das – trotz Beginn um 17 Uhr an einem Donnerstag – ausverkaufte Haus feierte nach der zweiten Aufführung die insgesamt großartigen Leistungen von Solisten, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin kurz und heftig.
Weitere Aufführungen: 28. Oktober, 4. November 2012, 12. Januar, 29. März und 1. April 2013.