Als Charles Dickens 1870 starb, hinterließ er einen unvollendeten Roman. „Das Geheimnis des Edwin Drood“ gilt als einer der ersten Kriminalromane und erschien in Fortsetzungen. Die aber brechen genau da ab, wo zu vermuten wäre, das geheimnisvolle Verschwinden Edwin Droods könnte aufgeklärt werden. Edwin ist ein Waisenkind und durch vormundschaftliche Finten zwangsverlobt mit Rosebud, ebenfalls Waise, aber im Gegensatz zu Edwin mit beträchtlichem Vermögen ausgestattet. Dieses aber, sollte die Verbindung nicht zustande kommen, geht ihr verloren und würde an den bigotten Kirchenmann Mr. Jasper fallen, der eh seiner jungen Gesangsschülerin Rosebud viel näher kommt als es das Gesetz erlaubt. Und genau dann, wenn die jungen Leute sich entscheiden ihre eigenen Wege zu gehen und auf Verlobung und Geld zu pfeifen, verschwindet Edwin Drood. Der Verdächtige ist schnell ausgemacht, es ist Neville. In der Görlitzer Sicht ein Gaststudent aus Ceylon.
Was hier bei Dickens endet, hat man jetzt in Görlitz fertig gemacht. Zur Uraufführung kommt ein Kriminalstück für Musiktheater. Es beginnt mit einer Diskussion zwischen Darstellern und einem Regisseur darüber, wie man das Stück aufführen könnte. Dass diese Diskussion schon nach nicht einmal 60 Sekunden ihren Tiefpunkt erreicht, steht im Text. Den hat Sebastian Ripprich mit viel Fleiß und großem Anliegen verfasst. Er will ständig belehren mit Erkenntnissen, die wir längst wissen. Seine Figuren sind von Pappe und lassen Sprechblasen los. Klischees ohne Ironie sind ermüdend. Da ist alles „dünn wie ein Haar“, steht auch so im Text.
Obwohl schon zur Pause, nach der langatmigen Adaption der fragmentarischen Vorlage dank vieler Hinweise mit hoch erhobenen Zeigefingern klar ist, wie schlecht die Welt ist und wer die Schuld daran hat, werden wir mit dem Versprechen entlassen, man wolle das alles nach der Pause nochmal spielen, aber dann im 21. Jahrhundert: „DroodGame oder das Jahrhundert-Spiel“, aha!
So also ist die Gegenwart. Aus der Opiumhöhle ist ein Puff geworden in dem die Erotik so heiß ist wie ein erkaltetes Ofenrohr. Der Kirchenmann eilt vom Altar dahin und zurück. So ein bigotter Kerl. Hatten wir aber schon. Es geht noch um den zweiten Arbeitsmarkt und kriminelle Geschäfte in der Baubranche, Lokalpolitik, Bestechung und natürlich Ausländerfeindlichkeit. Aus den ceylonesischen Gaststudenten sind ukrainische geworden und ein lokaler Drahtzieher mit supernationalistischen Ansichten tritt gleich in schwarz mit Stiefeln auf und muss die schüttere Stimme verstärken lassen. Aus Zeigefingern werden Zaunlatten.
Edwin Drood ist jetzt ein Rapper, Rosebud besucht eine Eliteschule, wird wieder befingert und muss erfahren, dass sie gar kein Waisenkind ist, sondern die Tochter von Sally. Und die ist, richtig geraten, Bordellchefin. Die ist dann mal kurz tot, lebt aber wieder und liest dem Heuchler Jasper die Leviten. Eine muss ja die Moral auf Beinen sein. Dafür ist Edwin unser Rapperjunge wieder richtig tot, verdächtig ist der Zigeuner aus der Ukraine. Da hat der Autor aber dem Volk genau aufs Maul geschaut. Wenn dann die Truppe wieder aus den Rollen steigt und darauf dringt, noch einen Schluss mit Happy End zu spielen, dürften auch Atheisten die Hände falten und nicht nur um ein glückliches, vor allem um ein gnädiges, sprich baldiges, Ende zu bitten. Das wird erhört. Das Finale ist kurz.
Und die Musik? Gute Frage – bei weit über 20 Szenenwechseln musste der Komponist Ernst Bechert erst einmal jede Menge Umbaumusiken schreiben. Die müssen auch immer kräftiger werden, irgendwann ist es den engagiertesten Technikern nicht mehr möglich die klotzigen Versatzstücke von Britta Bremer lautlos oder gar elegant zu bewegen.
Und was ist ein Kriminalstück für Musiktheater? Die Vorspannmusik vom „Tatort“ wird eingespielt, sonst wird geredet und geredet und geredet. Dann geht der Text über in ein Melodram, es wird gesungen, Ansätze von Ensembles gibt es auch. Das deutsche Kunstlied kommt vor, der Choral auch, ein wenig verfremdet. Dann lässt auch einmal Kurt Weill grüßen, die deutsche Schlagerseligkeit sowieso, Operettenklischees ohne Wenn und Aber, lupenreiner, somit völlig stubenreiner, Rap und die bekannten Töne aus den Krimis seliger Filmerinnerungen in schwarz-weiß. Nur dass es in diesen Filmen zwischen Schwarz und Weiß viele Farbfacetten gab. In Görlitz nicht. Der aufzusagende Text ist übermächtig. Die knappen musikalischen Einschübe fügen sich nicht zu einem Ganzen. Es fehlt an Raffinesse, Pfiff und Spannung. Nicht gerade günstig bei einem Kriminalstück, selbst wenn es fürs Musiktheater sein soll.
Das Görlitzer Ensemble und die Mitglieder der Neuen Lausitzer Philharmonie unter Leitung von Ulrich Kern liefern verlässlich ab, was von ihnen verlangt wird. Mehr aber können sie nicht tun. Und der regieführende Generalintendant Klaus Arauner, eigentlich immer auf der Suche nach Doppelbödigkeit, nach assoziativen Bildern, er hat hier schon genug damit zu tun, das Auf und Ab der Protagonisten zu organisieren. Dann stehen sie da, reden oder singen und gehen wieder oder es wird dunkel. Wenn ich richtig verstanden habe, wurde einmal gesagt, dass man nur zeigen könne, wie die Welt besser sein könnte. Muss es denn immer gleich die Welt sein? Man könnte ja erst einmal beim Theater anfangen. Oder hätte man es in diesem Falle lieber ganz sein lassen sollen?
In Görlitz aber lässt man sich nicht entmutigen. Die nächste Uraufführung fürs Musiktheater ist bestellt. In der nächsten Saison stirbt ein Banker. Viel mehr war da noch nicht zu erfahren, nur so viel: neue Runde, neue Chance und neues Team.