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Energiegeladen: Emile Parisien beim Festival der JOE in Essen. Foto: Stefan Pieper
Energiegeladen: Emile Parisien beim Festival der JOE in Essen. Foto: Stefan Pieper
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Zum großen Dorf vereint: Stimmige Vielfalt beim 17. Festival der Jazz Offensive Essen (JOE)

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„Ich wollte Jura studieren, aber meine Eltern bestanden darauf, etwas Vernünftiges zu machen – und Jazzmusiker zu werden“ lässt der Essener Trompeten-Professor Uli Beckerhoff seine eigene Spielart eines weit verbreiteten Elternspruchs verlauten. Er selbst lebt gut damit. Und auch andere bewiesen im Essener Katakomben-Theater, wie goldrichtig sie mit dem eingeschlagenen Lebensweg liegen.

Denn sie beherrschen nicht nur unfassbar gut ihre Instrumente und sprühen nur so vor unverbrauchten Ideen – sondern lassen all dies auch nach draußen dringen. So hat etwa John Dennis Renken, der als Trompeter bei Beckerhoff in die Lehre ging, zusammen mit Patrick Hengst die künstlerische Leitung des alljährlichen Festivals der Jazzoffensive Essen übernommen.

„Wir bekommen  nichts für unsere Arbeit, sondern zahlen selbst einen Vereinsbeitrag“, betont Renken. Wieviel Spaß diese Selbstausbeutung allen Beteiligten macht, davon zeugt die Atmosphäre auf diesem kleinen, aber feinen Jazzfestival, das längst über die Region hinaus wahrgenommen wird. Im kleinen Studiobühnen-Theater gibt es beste Hörbedingungen, ebenso ist ein ideal dimensioniertes menschliches Miteinander vorprogrammiert. Vor allem: Das JOE-Festival wurde von den jungen Musikern selbst ins Leben gerufen, denn deren gibt es hier dank der Folkwang-Uni mehr als genug. Und so funktioniert das Festival wie eine Art Geschenk der Szene an die Stadt. Diese zeigt sich erkenntlich, indem sie den eingetragenen Verein finanziell unterstützt. Ganz untypisch hier für den Zeitgeist: Eine Fördermittel-Kürzung seitens der Stadt wurde für die aktuelle 17. Festivalausgabe gerade wieder zurück genommen.

Untypisch für viele Festivals ist es auch, dass die Programm-Mischung bei der aktuellen Festival-Ausgabe extrem stimmig auf den Punkt kam. Es gab keinen Gegensatz zwischen Highlights und nicht so interessantem, und jeder Act komplettierte als weiterer unverzichtbarer Farbtupfer die schillernde Gesamtpalette. Drei lange Sets am Abend plus Raum für Zugaben und dazwischen lange Pausen – man darf durchatmen auf dem JOE-Festival.

Die aufgebotenen internationalen Bands machten klar, wie erwachsen das Festival geworden ist. Aktueller europäischer Jazz, der radikal und frech auf den Zenit der Zeit hinauf stürmt kam unter anderem aus Frankreich. Emile Parisien heißt ein neuer, extrem energiegeladen aufspielender Saxofonist. Voll expressiver Glut und an der Grenze zur ekstatischen Raserei könnte Parisien seine Band locker an die Wand spielen. Wenn die ihn das nur machen ließe. Denn die bietet so extrovertiert und fantasiestrotzend Paroli, wenn sie ihren Leader mit extremer Rhythmik, treibenden Gesten und gebündelter subversiver Fantasie immer neu herausfordert.

Einen wunderbar entrückenden Kontrast lieferte das Trio von besagtem Uli Beckerhoff. Lyrisch atmende Linien – meist auf dem Flügelhorn - streichelten die Seele nach den rabiaten Duellen der Franzosen. In hypnotischer Ruhe pulsierte das Schlagzeug von Stefan Ulrich - und das Synthesizerspiel von Michael Berger entführte in so manche Klang-Sphäre einer älteren ECM-Aufnahme. Zurücklehnen, durchatmen – sich in eine imaginäre Landschaft wegträumen!

Der Welt unerhörte Klänge ablauschen, die Ausdrucksmöglichkeiten des vorhandenen Materials erweitern und Instrumente aus ihren Rollenfixierungen herauslösen ist Sache der Echtzeit-Improvisatoren um den Schlagzeuger Simon Camatta. Zunächst machte er all dies ganz allein auf seinem Schlagzeug, dann waren die Musiker des Projektes „POL“ um ihn herum zentriert, wozu der Geiger Radek Stawartz, der Bassist Achim Tang und der Keyboarder Thomas Glaesser gehören. Und die extrem spielfreudigen Improvisationen griffen im Kern auch wieder auf kompositorische Skizzen zurück.

Cellist Jörg Brinkmann ist ein Garant für poetische, manchmal sphärische Klangwelten, die er auf seinem- phasenweise elektronisch modifizierten-  Instrument unendlich variabel in vielen Stilistiken und Konstellationen einbringt. Im Rahmen des Projektes „a si & twice no“ traf er auf die Sängerin Simin Tander. Erhaben agierte diese im Zentrum der Bühne mit ihrer Stimme als sensiblem Instrument, formte Klänge, Phrasierungen und lyrische Arabesken. All dies ist so berührend und so erfrischend weit weg von jedem Vokaljazz-Mainstream.

Die Großformation „The Dorf“, die schon viele Moers-Festivals bereicherte und gerne auch mal synchron zu EM-Fußballspielen improvisiert, führte in ein rauschendes, lautes und buntes Finale. Die circa 30-köpfige Großformation ist ein freigeistiges Kollektiv, in dem das pralle Leben herrscht – ein buntes Völkchen aus Musikbesessenen aus hiesiger Region. Sie lassen es traumwandlerisch jazzen und wütend rocken, heben in freie psychedelische Klangwelten ab, verzahnen sich in präzisem Gleichklang in den Partituren, die ihr Bandleader Jan Klare schreibt. Der Geist des Festivals findet  im Miteinander aller Beteiligten statt – vor und auf der Bühne kreativ, verrückt und offensiv.

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