Das Orchester „wurde der Repräsentant einer neuen Hörerschicht, […] für die Musik kein Vergnügungsmittel bedeutete, sondern etwas, wozu sie aus spiritueller Notwendigkeit gelangte. Wir sehen, dass dieser Kreis mit der Zeit immer größer wurde und dass sich auch die Aufgabe des Orchesters erweiterte, sodass die Disposition seines Mechanismus und die Organisation seiner Formen ebenfalls erweitert werden mussten. […] Es gab kein anderes Instrument, kein anderes Formgefüge, das dem Orchester als einem Organismus für die Widergabe gemeinsamer Gedanken, gemeinsamer Gefühle, gemeinsamer Tendenzen und gemeinsamer Ziele gleichkam. Keine andere Formorganisation spiegelte alle diese Bewegungen so direkt wie das Orches-ter, denn sein Wesen gründete sich auf die menschliche Gemeinschaft und seine Gesetze wurden durch jede Bewegung dieser Gemeinschaft bestimmt. Daraus erklärt sich, dass das Orchester eine der bedeutendsten Kulturerscheinungen war, ist und bleiben wird,“ …
… schreibt 1936, im Exil, Paul Bekker in seiner Historie über die Orchesterentwicklung von Haydn und Mozart bis hin zu Strauss und Schönberg – mit Pathos und Wehmut zugleich. Ist ihm, dem großen Beethoven-Biographen und Wegbegleiter der Zweiten Wiener Schule, doch gleichzeitig bewusst, dass gerade letztere, ebenso wie etwa die Neoklassizisten Hindemith und Strawinsky, längst schon begonnen hatten, dieses chorische Großensemble stilistisch aufzulösen zuguns-ten solistischer Besetzungen. „Neue Musik“, als Kunst von 1909 und 1919 (durch Bekker selbst!) auf den Begriff gebracht, ist im Wesen kammermusikalisch, zielt mehr auf Stimmenverknüpfung denn auf Stimmenvermehrung und denkt vom Ensemble her.
Vor allem aber dank der Neuen Musik haben Orchester und Ensemble, Großform und intime Binnenstruktur zu neuen, ja überwältigenden Verhältnissen gefunden, was belegt, in welchem Maße das symphonische Breitwand oder harmonische Breitband konstitutiv ist für eine sozial wie quantitativ breite und das heißt bürgerliche Öffentlichkeit der Kunstmusik. Seit Musikaufführungen verstärkt nicht mehr kirchlich, höfisch oder privat motiviert waren und auf eine Publikumsbeteiligung allein der Sache der Musik wegen aus waren – frühe Beispiele wären die Pariser Concerts spirituels ab 1725 oder das Leipziger Große Konzert ab 1743 –, gerieten die große Form und die große Formation immer mehr zu den tragenden Säulen des Musiklebens. Befördert von einem Stil, der es mittels thematischer Verknüpfung und harmonischer Bezüge vermochte, singuläre Werke über immer weitere Strecken spannend, abwechslungsreich und zugleich formvollendet und nachvollziehbar zu gestalten, gerannen in den kommenden 150 Jahren Symphonie und Konzert zu den zentralen Formen der Kunstmusik und das Orchester zu ihrem wichtigsten Träger.
Und so sind ihren schieren Dimensionen nach die symphonische Form, das Konzertformat inklusive der passenden Räumlichkeiten und die instrumentale Formation historisch eng miteinander verschränkt. Für ein Liebhaberpublikum des 18. Jahrhunderts lagen der viertelstündige Kopfsatz der „Eroica“ ebenso wie die Münchner Festhalle (Uraufführungsstätte von Mahlers Achter) jenseits des Vorstellbaren. Vor dem Siegeszug des Massenmediums Kino gab es daher keine Kunstvorführungen, die ein derartig großes Publikum live zu „bewegen“ vermochten, wie das Konzert – abgesehen vom Musiktheater, wo allerdings, ob bei Mozart, Wagner oder Berg, die symphonische Form und das Orchester nicht weniger stilprägend waren.
Beinahe zeitgleich, als die künstlerische Auflösung der Formate einsetzte, wurden die mehrheitlich höfischen Theater- und die mehrheitlich privatwirtschaftlichen Konzertorchester ab 1919 verstaatlicht, jedoch institutionalisierte sich leider dadurch eine Trennung von traditionellem Grund und innovativem Impuls. Musikpflege wurde zwar Aufgabe, aber die Restauration war drin, und die Avantgarde musste draußen bleiben, was freilich den historischen Ursprung ins Gegenteil verkehrte und heute noch dazu führt, dass, wenn es um Vorstellungen von einem künftigen Musikleben geht, selbst in kulturministerialen Veröffentlichungen institutionelle und Projektensembles gegeneinander ausgespielt werden (vgl. Peter Landmann in nmz 3/09). Das verkennt, in welchem Maße die großen Formate eine weite und demokratische Kunstmusiköffentlichkeit begründeten, ja zur Emanzipation von Kunst und Öffentlichkeit beitrugen. Was auch eine Aufgabe wäre, an die sich die öffentlichen Träger weit über jede Freiwilligkeit hinaus und aus Notwendigkeit erinnern könnten …
Nun ist es aber nichts anderes als „Seinsvergessenheit“ (Heidegger), was heutzutage mancherorts und vermehrt im kulturpolitischen Umgang mit Orchestern zu beobachten ist, ob beim SWR, ob in Remscheid oder sonstwo: Vergessenheit, wie üppig sich das Musikleben, von der Grund- bis zur Hochschule, vom Stadtteilkonzert bis zum Rundfunk, um die institutionellen Klangkörper gruppiert; Vergessenheit, dass und wie nämlich an die 250 und immer mehr Jahre Kunstmusik für eine große Öffentlichkeit im „Wesen“ der großen Formationen sedimentiert sind und immer wieder zu Leben erweckt werden – als authentischer und erlebbarer Ausdruck der Zeit, bei der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. Teilhabe daran zu gewähren, Teilhabe, die vor allem weil sie komplexes Erleben bietet, lebenslang ausreicht, das ist gegenwärtig mehr denn je Aufgabe auch der kulturellen Bildung und Vermittlung. Die hierfür zwingend notwendige Bedingung aber ist, dass Musik überhaupt und in all ihrer Qualität stattfindet, und nicht weiter vergessen wird, was in der Fülle und Fläche hierzulande die tragenden Säulen der Musikkultur sind – sofern man sie erhalten will. Und rund 130 Kulturorchester müssten dafür nicht zu viel sein.