In St. Moritz gibt es einiges, was man andernorts nur schwerlich findet: Bedienstete zum Beispiel, die am Morgen ein Rudel Rassehunde die Seepromenade entlangführen. Oder Automobile zum Kaufpreis eines mittleren Inselstaats. Oder auch ein Festival, wo die Stars des Jazz in einem Club mit nur rund 120 Plätzen spielen.
Für Michel Legrand steht fest: „Das Festival in St. Moritz ist eines des wichtigsten seiner Art. Sonst gibt es vielleicht noch Montreux, eines in Washington, wo ich oft spiele und ein paar andere. Aber das war es dann eigentlich.“ Nun neigt der Komponist, Pianist und Filou zu einer charmanten Art des Apodiktischen, ein Luxus des Geistes, den er sich kurz nach seinem 80. Geburtstag mit einem Lächeln herausnimmt. Trotzdem trifft seine Meinung auch einen Trend. Denn das Festival da Jazz gehört zu den am schnellsten wachsenden Veranstaltungen seiner Art.
Vor fünf Jahren erst mit kaum mehr als einer Handvoll Konzerten gestartet, waren in dieser Saison einen Monat lang über fünfzig zumeist hochkarätig besetze Gastspiele mit Künstlern wie Brad Mehldau oder Dianne Reeves, Al Di Meola oder Enrico Rava, The Bad Plus oder eben Michel Legrand zu managen. Tendenz steigend.
Die Sponsoring-Idee
Damit so etwas klappt, ist ein Sponsoring-Konzept nötig, das zu dem Ort der Schönen und der Reichen passt. „In der Regel machen wir zuerst das Programm“, meint Christian Jott Jenny, der künstlerische Leiter des Festival da Jazz. „Dann bieten wir gezielt die einzelnen Abende zum Sponsoring an und viele Firmen machen daraus ihr eigenes Event im Rahmen des Festivals, mit Dinner und reservierten Plätzen auf der Empore des Dracula Clubs.“
Die Rechnung geht auf. Das Festival brummt, die Eintrittskarten sind mit mehr als 80 Prozent von Unternehmen gesponsert und das, obwohl sie mit Preisen zwischen 80 und 120 Euro bereits im oberen Segment rangieren. Peanuts für die Fans, das Publikum steht Schlange an der Abendkasse, um in den Dracula Club zu kommen, den in den Siebzigern Gunter Sachs gegründet hat und der auch deshalb mit seiner Mischung aus Almhütte und Hautevolee den Nerv der Arrivierten trifft.
Das Prinzip Hausmusik
Der Effekt ist ein doppelter. Das Publikum fühlt sich wohl, genießt das Flair des Exklusiven und reist inzwischen für einzelne Konzerte auch aus Österreich, Italien oder Deutschland an. Vor allem aber sind die Künstler in der Regel in bester Laune. Sie werden hofiert, fliegen schon mal mit dem Hubschrauber ein und dürfen dann in einem stimmungsvollen Raum spielen, der nicht nur gut klingt, sondern darüber hinaus die Aura des Privaten ausstrahlt.
Das Prinzip Hausmusik beflügelt sie zu Momenten, die sonst in den großen Hallen und urbanen Clubs nur selten möglich sind. Ein Brad Mehldau etwa kommt mit einem Mal ins Erzählen, erklärt in fließendem Deutsch den Menschen die Hintergründe seiner Kunst, um dann zweieinhalb Stunden zu spielen. Ein Al Di Meola zieht irgendwann den Stecker und spielt einfach akustisch weiter, was um Längen besser klingt als die verstärkte Variante. Oder eine Dee Dee Bridgewater flirtet erst einmal burschikos mit den jungen Männern im Saal, bevor sie alle im Raum mit großem Entertainment-Kino um den Finger wickelt.
Rava, Legrand, Ritenour
Zum Finale kamen schließlich noch drei Künstler unterschiedlicher Stilherkunft, um mit ihren Gruppen an der besonderen Stimmung des Dracula-Ambientes teilzuhaben. Aus Mailand reiste der Trompeter Enrico Rava mit seinem jungen Tribe Quintett an und präsentierte kraftvollen Modern Jazz mit viel spontaner Detailarbeit, vor allem in der Kommunikation mit seinem Gegenüber Gianluca Petrella, der mit mäandrierenden Linien der Posaune komplementäre Formen und Farben zum Trompetenton fand.
Von dem Michael-Jackson-Programm, mit dem Rava sich in diesen Tagen auf CD vor dem Ganymed des Pops verneigt, war an diesem Abend allerdings nichts zu spüren. Vielmehr konzentrierte sich der Trompeter auf Bewährtes aus der mal elegisch, mal energisch groovenden Schatzkiste seines Repertoires, das er und seine Mitspieler mit viel Elan umsetzen.
Michel Legrand hingegen war für manchen Besucher eine Überraschung. Denn der alte Herr des europäischen Jazz hatte so gar nichts Betuliches, sondern erwies sich im Trio mit Bassist Pierre Boussaguet und Drummer François Laizeau auch mit 80 Jahren noch als Getriebener, der seine Leidenschaft für den Jazz mit einer Mischung aus Herzblut und der fröhlichen Routine der Erfahrung an das Publikum weitergab. Eigene Klassiker wie „Windmills Of Your Mind“ verarbeitete er zu einem ironischen Medley der Stile und Transformationen, andere Lieder etwa zu Ehren von Miles Davis, waren von profunder Ehrfurcht vor dem Genius getragen, mit dem er mehrfach während seiner langen Laufbahn gearbeitet hatte.
Pianistisch brillant, als Entertainer ebenso witzig wie verschmitzt, nur als Sänger stellenweise brüchig, gab sich damit einer der letzten großen musikalischen Universalisten der alten Schule in St. Moritz die Ehre und vermittelte eine Ahnung davon, warum Jazz in seiner Generation als Kunst ebenso wie als Entertainment in den Bann zu ziehen vermochte.
Als letzter Gast des Festivals führte schließlich Lee Ritenour diese Idee weiter in die amerikanische Gegenwart. Denn der Gitarrist aus Los Angeles brachte ein flockiges West Coast Quartett mit in die Schweizer Berge, das sich – mit dem rhythmischen Alleskönner Wolfgang Haffner am Schlagzeug, der für Ritenours erkrankten Sohn Wesley einsprang – der Melodien von Santanas „Stone Flower“ bis hin zu Oliver Nelsons „Stolen Moments“ annahm.
So konnte das Team des Festival Da Jazz mit dem fünfjährigen Jubiläum und dessen Ausklang rundum zufrieden sein. Lediglich die Frage nach dem weiteren Wachstum könnte Jenny & Co noch Kopfzerbrechen machen. Denn in den Dracula Club passen in Zukunft kaum mehr Menschen hinein als in diesem Jahr. Erste Versuchsballons der Ausdehnung aus den Räumen heraus auf andere Bühnen im Dorf wurden mit Matineen, Late Night Lounges oder Gastspielen im Kino von St. Moritz bereits gestartet. Da ist noch einiges drin, wie überhaupt beim Festival da Jazz.