Sollen die Ergebnisse künstlerischer Kreativität künftig der Allgemeinheit übergeben werden, ohne dass diese dem Schöpfer dafür einen „angemessenen Lohn“ zahlt? Im Grunde steht es jedem Künstler frei, sein Urheberrecht in klingender Münze einzufordern oder eben dies nicht zu tun. Wie er im letzteren Fall seine Brötchen und ähnliches finanziert, bleibt allerdings ihm selbst überlassen. Die Diskussion über „creative commons“ greift um sich. Der Umkehrschluss zur bisher mehr oder weniger unangefochtenen These vom „Recht am geistigen Eigentum“, den unser Autor Wolfgang Martin Stroh im folgenden wagt, hat allerdings bisher nicht Schule gemacht. Stroh stellt die Urheberrechtsdiskussion gewissermaßen von den Füßen auf den Kopf, wenn er das seit mindestens 100 Jahren erkämpfte Diktum vom „geistigen Eigentum“ radikal abschaffen möchte. Der Text ist eine Rede Strohs, die er im Rahmen des „open score project“ des Instituts für Musik der Universität Oldenburg im Februar 2008 hielt. Ob mit einer radikalen Sozialisierung aller „Kreativ-Produkte“ irgendjemandem gedient ist (dem Rezipienten, der sich in der Regel über kulturelle Vielfalt freut, der „bösen“ Musikwirtschaft, die hier ein weiteres Mal mit Genuss zur Ursache allen Übels deklariert wird oder aber dem Künstler selbst) sei dahin gestellt. Ein wenig zu leicht macht Stroh es sich, wenn er sich in Zeiten zurückträumt, in denen Komponisten dem Publikum ihre Musik überließen mit der Bitte „dafür dankbar zu sein, indem Ihr mir Kost und Logie bietet“. Und sein Mitleid mit den armen Komponisten-Kollegen, die „noch an geistiges Eigentum glauben…“, mag man als übertrieben werten. Die heftige Diskussion, die der folgende Text allein in den Reihen der nmz-Redaktion ausgelöst hat, tragen wir mit seiner Publikation in die Öffentlichkeit. An einer wie auch immer gemäßigten oder provokanten Beschäftigung mit der zukünftigen Behandlung der Urheberrechtsfrage im Zusammenhang mit der Idee von „creative commons“ kommt das Musikleben jedenfalls heute nicht mehr vorbei.
Der Komponist Gustavo Becerra-Schmidt stellt über die Internetplattform www.becerra-schmidt.org alle seine nicht bei Verlagen erschienenen, das heißt circa 150 Werke, kostenlos online zur Verfügung. Im Archiv sind derzeit über 6.000 Notenseiten in gescannter Form gelagert und weltweit abrufbereit. Neuere Werke können auch als Datei im Format „finale“ abgerufen werden. Das virtuelle Becerra-Schmidt-Archiv „gbs open score project“ ist das erste seiner Art. Es macht Ernst mit der Globalisierung, die das Internet ermöglicht und fördert ganz im Sinne des politisch engagierten, seit 1973 im deutschen Exil lebenden chilenischen Komponisten die Demokratisierung von Kunstmusik.
Stellen Sie sich vor, ein Nokia-Arbeiter oder ein Angestellter der Deutschen Bank käme auf die Idee zu behaupten, die materiellen Werte, die er schafft, seien sein Eigentum! Das wäre unvorstellbar – oder, noch schlimmer, das wäre Kommunismus. Wir alle wissen, dass die Idee, dem Arbeiter die Werte, die er schafft, tatsächlich zuzusprechen, derzeit weltweit als unrealistisch betrachtet wird.
Als ebenso unrealistisch sollten wir heute die aus der frühbürgerlichen Zeit stammende Idee eines „geistigen Eigentums“ betrachten.
Diese Idee liegt bekanntlich jenem Recht zugrunde, das heute als Urheberrecht für die Gewinne der Musik-, Elektronik- und Verlagskonzerne sorgt. Man kann die aktuellen Urheberrechte als eine Art Regulativ für den Vertrieb von Musik betrachten. Dagegen wäre nichts zu sagen, solange alle Beteiligten sich einig sind.
Problematisch wird die Angelegenheit dann, wenn man das Urheberrecht auf eine Art Naturrecht des „geistigen Eigentums“ gründet. Ich möchte kurz skizzieren, dass die Vorstellung eines geistigen Eigentums eine historische und musik-feindliche Form falschen Bewusstseins ist. Dazu muss ich kurz etwas ausholen: Wenn eine Schallwelle an unser Ohr trifft, dann kann man fragen, ob dies Musik ist, was wir hören.
usikanthropologen sind mit mir der Meinung, dass der Schall Produkt einer menschlichen Tätigkeit sein muss, dass diese Tätigkeit eine symbolische Art der Aneignung von Wirklichkeit sein muss und dass diese Aneignung das Ziel haben soll, das alltägliche Leben in irgendeiner Weise zu transzendieren.
Diese Definition von Musik gilt, wenn Sie kurz nachdenken, für Opern, Filmmusik, Entspannungsmusik, außereuropäische Kulte, Fußballgesänge, Karnevalslieder und so weiter. Die abendländische Musikgeschichte ist eine interessante Abfolge von Verdinglichungsprozessen dieser von Musikanthropologen apostrophierten musikalischen Tätigkeit. Als Papst Gregor seinen Schreibern die Melodielinien des Gregorianischen Chorals auf Pergament diktierte, wollte er die in England und Germanien beliebte Praxis des volksmusikalischen Feierns in den christlichen Kirchen unterbinden und aus einer lebendigen musikalischen Aneignungstätigkeit einen verdinglichten Code machen. Mit Erfolg übrigens, wie man sonntags in vielen Kirchen hören kann. Als die ersten Kompositionen notiert oder als die ersten Komponistennamen auf Papier geschrieben wurden, als die Drucker sich für die Verbreitung von Liedern und Noten sorgten und als Fürsten verbieten wollten, dass Werke ihrer Angestellten einfach nachgespielt wurden ... als all dies geschah, war jedes Mal ein leicht durchschaubares politisches oder ökonomisches Interesse Pate eines fortschreitenden Verdinglichungsprozesses musikalischer Aneignungstätigkeit.
Den krönenden Abschluss fand dieser Prozess im emphatischen Kunstwerk des Bürgertums, das „der ganzen Menschheit“ gehören sollte, jedoch nur gleichsam leihweise. Statt einfach zu sagen: „Ich überlasse Euch meine Musik und bitte Euch, mir dafür dankbar zu sein, indem Ihr mir Kost und Logie bietet“, musste sich der Komponist auf die aktuelle Philosophie berufen, die das Naturrecht eines „geistigen Eigentums“ erfunden hatte. Nun war die anthropologische Idee der Musik als einer Aneignungstätigkeit durch eine materialistische Ideologie überformt, die besagte, dass ein Komponist Eigentum schafft – allerdings nicht, um dies alleine zu besitzen und bei sich zu bewahren, sondern um dies Eigentum gegen Gebühr der ganzen Menschheit auszuleihen. (Dieser Prozess wurde oft als der Übergang von der Dienstleistungs- zur Warenproduktion im Bereich der Musik beschrieben.)
Wir haben uns alle daran gewöhnt, den Lohn, den ein Komponist für seine kompositorische Tätigkeit erhalten möchte, als die Leihgebühr seines „Eigentums“ zu betrachten. Dies ist in vielerlei Beziehung grotesk und nur als historische Hilfskonstruktion verständlich. Das (geistige) Eigentum wird, wenn es konsumiert worden ist, gar nicht verbraucht. Es verbleibt immer noch beim Komponisten beziehungsweise seinem Rechteverwalter. Es wird nur „genutzt“ und ist als Eigentum unveräußerlich, „unsterblich“. Hier spiegelt sich die Ideologie des Geniezeitalters, der zufolge Komponisten für die Ewigkeit schaffen, in quasi juristischer Form wider. – Das geistige Eigentum ist aber realiter gar nicht wirkliches Eigentum des Urhebers, sondern Rohstoff, mit dem ein Verlag oder ein Musikkonzern weiterarbeiten kann. Unter welchen Bedingungen ein Komponist sein geistiges Eigentum einem Verlag oder Musikkonzern übergibt, ist keine Naturrechtsfrage, sondern eine Machtfrage bei der Vertragsgestaltung. In der Regel sehen diese Verträge ja vor, dass, sobald ein Komponist sein Werk einem Verlag überantwortet hat, er nicht mehr tun und lassen darf, was er will. Das Eigentum ist nicht mehr seines.
Wenn eine Idee historisch und keine Naturkonstante ist, dann kann sie auch wieder verschwinden oder durch eine neue Idee aufgehoben werden. Dazu bedarf es objektiver Voraussetzungen politischer, ökonomischer und technischer Art. Dass Urheberrechte, die sich auf die Idee des geistigen Eigentums berufen, beispielsweise im Bereich des Patentrechtes zu weltweiten Katastrophen führen – man denke nur an die Behinderung der Bekämpfung von AIDS! –, brauche ich gar nicht zu erwähnen. Dass im Musikgeschäft nur die allerwenigsten Musiker/-innen von Urheberrechten „profitieren“, die meisten aber schon gar nicht auf die Ebene der Zirkulation kommen, hat sich aber noch gar nicht so weit herumgesprochen. So meinen selbst Garagen-Bands, es wäre auch in ihrem eigenen Interesse, wenn ihre Werke geschützt wären. Das Gegenteil ist der Fall, denn die Garagen-Band lebt nicht von den geschützten Werken sondern von ihren Auftritten, sprich den musikalischen Dienstleistungen, die sie in ihrem sozio-kulturellen Umfeld erbringt. Und dort tut sie das, was Musikanthropologen so gerne sehen: sie eignet sich und ihrem Publikum soziale Lebenswirklichkeit an und „transzendiert“ diese.
Idee des geistigen Eigentums den Boden entziehen
Die technische Entwicklung hat nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch technisch der Idee des geistigen Eigentums den Boden entzogen. Von der Erfindung der Buchdruckerkunst bis hin zu den letzten Zuckungen der Musikverlage angesichts der erfolgreichen Xerox-Kopierapparate waren die Komponisten aus technischen Gründen an Druckereien und Verlage gekettet, die die Zirkulation ihrer Musik bestimmten. Es gab also eine technische Hürde, die nur von wenigen Musiker/-innen genommen wurde. Der Normalfall lautete: „Versuche einen Verlag zu finden, und Du bist viel Ärger los und kannst Dich dem Komponieren widmen!“ Dass dabei das geistige Eigentum als Rohstoff in einen Verwertungsprozess eingegangen ist, merkt dieser sorglos Komponierende spätestens dann, wenn die Jahresabrechnung mager ausfällt, weil sich die Verwertung seines geistigen Eigentums nicht gelohnt hat.
Die technische Hürde aus dem Zeitalter des Setzens, Druckens und Xeroxkopierens von Noten ist heute dank Scanner, Notationsprogramme und elektronischem Datenverkehr gefallen. Und es bietet sich die gute Gelegenheit, auch den Begriff des „geistigen Eigentums“ fallenzulassen. Das open score project, das das Institut für Musik der Universität Oldenburg zusammen mit der Universitätsbibliothek im Februar 2008 eröffnet hat, zeigt, dass es auch ohne diesen Begriff geht. Ich bin überzeugt, dass der Komponist Gustavo Becerra-Schmidt, der hier die meisten seiner Werke kostenlos zum Download anbietet, vorbildliche Aufklärungsarbeit im Dienste aller Kolleginnen und Kollegen geleistet hat, die noch an geistiges Eigentum glauben und mit ansehen müssen, wie dies Eigentum zum Rohstoff eines entfremdeten Produktions- und Zirkulationsprozesses verkümmert.
Das Projekt verfolgt im Rahmen der aktuellen „open document system“-Diskussion deutscher Bibliotheken und der „Göttinger Initiative“ zum freien Publizieren wissenschaftlicher Texte nicht nur den eigennützigen Zweck, dass die notierten Werke eines zeitgenössischen Komponisten bekannt und gespielt werden. Im Zentrum des Projekts steht für mich die ideologiekritische und kulturpolitische Tat. Das kulturpolitische Ziel des Projekts wäre erreicht, wenn Komponisten ihre Arbeit nicht mehr so verstehen würden, dass sie geistiges Eigentum anhäufen, sondern so, dass sie mit ihren kompositorischen Mitteln sich Wirklichkeit aneignen und dadurch dazu beitragen, die Lebenswirklichkeit anderer Menschen im eingangs erwähnten breiten Sinne zu transzendieren.